Jungvögel, die wie der junge Grünspecht erst kürzlich das Nest oder die Bruthöhle verlassen haben und also flügge sind, leben gefährlich.
Sie müssen unmittelbare Gefahren erkennen, warnende Rufe von Artgenossen und anderen Vögeln verstehen, sich zu verbergen wissen und sich selbst mit Nahrung versorgen können. Mit anderen Worten: Sie müssen „auf eigenen Füßen stehen”. Die ersten Tage, Wochen und Monate sind für viele junge Vögel jedenfalls äußerst riskant.¹
Gerade hatte ich das Glück, in unserem Berliner Stadtgarten einen jungen Grünspecht zu beobachten, der sich offenbar ganz gut macht – und für eine Greifvogelattacke hoffentlich schon zu umsichtig ist. Ich entdeckte ihn zufällig durch das Treppenhausfenster im Dachgeschoss.
Kein Hämmerer am Baumstamm
Normalerweise sind auf dem Rasen die Ringeltauben unterwegs, aber Körperform und Körperhaltung passten nicht zu ihnen. Und dann fiel mir das Grün im Gefieder auf und … das Stochern im Boden. Das ist typisch für Grünspechte, die viel seltener am Baumstamm zu finden sind als etwa Buntspechte. Jedenfalls ist der Grünspecht kein großartiger Hämmerer und wird wegen seiner „Bodenhaftung“ auch als Erdspecht bezeichnet.
Nachdem ich ein Fenster im ersten Stock geöffnet und die Kamera geholt hatte, konnte ich nicht nur den Specht besser beobachten, sondern sah auch das charakteristische weißliche Kotwürstchen mit einem hakenförmigen Ende, das er gerade abgesetzt hatte.²
Der junge Grünspecht und sein Lebensraum
Es ist nicht das erste Mal, dass ein Grünspecht in unserem Garten auftaucht. Und das hat Gründe: In der Nähe gibt es einen Stadtpark, einen zunehmend verwildernden Friedhof, teils stillgelegte Gleisanlagen und Kleingärten. Zudem ist unser Garten naturnah und chemiefrei. Der Rasen ist mehr eine Wiese – kein englischer Rasen –, und es gibt Apfel-, Kirsch- und Pflaumenbäume.
Dass ein solches Gelände geeignet ist, einen Grünspecht anzulocken, lässt sich bei Volker Zahner und Norbert Wimmer in ihrem wunderbaren Buch Spechte und Co. auf Seite 138 nachlesen
Die Kulturlandschaft entlang der Ortsränder mit ihren großkronigen Obstbäumen und dem hochstämmigen Streuobst ist sein Reich. Aber auch lichte, sonnige Waldränder mit altem Laubholz nutzt er ebenso wie Industriebrachen und alte Gleisanlagen. Es sind vor allem kürzer rasige Schafweiden oder Brachen, aber auch Gartenflächen mit extensivem Grün, die hohe Dichten an Wiesenameisen (Lasius flavius) tragen, in dem man ihn regelmäßig antrifft.
Unauffälliger Jungvogel
Der Grünspecht ist der farbenfroheste Vertreter unter den heimischen Spechten. Das liegt an seiner leuchtend roten Kopfhaube, einem tiefen Schwarz um den hellen Augenring herum („Augenmaske“), dem Grün des Großgefieders und dem intensivgelben Steiß. Sehr schön demonstriert all das die Abbildung in der Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas (1887-1905, 3. Aufl., Bd. IV, Tafel 29) von Johann F. Naumann.
Jungvögel sind bei vielen Arten unauffälliger gefärbt als adulte Vögel und somit besser getarnt. Das gilt auch für den jungen Grünspecht: Seine Kopfhaube ist nur blass rot getönt, die dunkle Augenmaske wenig dominant, während das satte Grün und Gelb des Gefieders erst im Entstehen sind.
Typisch für junge Grünspechte ist die stark gestrichelt Unterseite – wie bei diesem überraschendem Gartenbesuch.
Genau genommen handelte es sich um eine Besucherin. Denn bei jungen Männchen schimmern die Federchen im zukünftigen Bartstreifen unterhalb des Auges bereits rötlich. Bei den subadulten und adulten Weibchen ist der Bartstreifen hingegen schwarz.
Die lange Zunge
Wer Spechte beobachtet, sieht zwar ihren wichtigen Stützschwanz und beobachtet ihr Klopfen beziehungsweise Hämmern, aber die nicht minder wichtige Zunge bleibt verborgen. Sie ist ein unglaubliches Instrument, das mit Widerhaken und klebrigem Sekret die krabbelnde Insektennahrung „fesselt“.
Gerade beim Grünspecht ist die Zunge unfassbar lang: Der Körper misst rund 30 cm, die Zunge bringt es auf 17 cm. Davon ragen durchaus 10 cm aus dem Schnabel heraus. Das ist Rekord unter den Spechten!
Wer sich fragt, wo die lange Zunge bleibt, wenn der Schnabel geschlossen ist, kommt ins Staunen. Sie windet sich – vom Schnabel ausgehend betrachtet – im Hinterkopf am Schädeldach entlang und zieht bis in die Hohlräume des Oberkiefers. Sie reicht, wenn sie zurückgezogen ist, also bis in den Oberschnabel nahe dem Nasenloch.
Kompliziert ist die Funktionsweise der Zunge. Es gibt einen Rückziehmuskel, der die ausgestreckte Zunge in den Schädel zurückholt, wenn er sich zusammenzieht, also kontrahiert ist. Sein Gegenspieler ist der Vorwärtszieher. Wenn dieser Muskel sich kontrahiert, wird die Zunge ausgehend von den Zungenbeinhörnern in Richtung Schnabel gezogen und also weit heraus gestreckt.
Leckerbissen im Boden
Wie schon erwähnt sind Ameisen die Leibspeise des Grünspechts. Er sucht sie meist auf und im Boden. Haben Grünspechte ein Ameisennest und dessen Gangsystem entdeckt, kommen sie immer wieder dorthin. Das hat Folgen, wie ich kürzlich am frühen Morgen feststellen konnte und noch erklären werde.
Grünspechte bedienen sich außerdem bei Ameisen, deren Straßen die Baumstämme hoch- und hinunterlaufen. Was die Techniken des „Ameisenangelns“ angeht, unterscheidet Dieter Blume in seinem detailreichen Buch Schwarzspecht, Grauspecht, Grünspecht (Die Neue Brehm-Bücherei, Magdeburg 1996, S.77 ff) mehrere Methoden:
Da ist zunächst als einfachstes Verfahren, die Ameisen von der Oberfläche, etwa einer Ameisenstraße auf Stämmen oder am Boden, mit der klebrigen Zunge und deren Widerhaken abzulesen.
Auch unter Rinden, Flechten und Moos sucht der Grünspecht nach Ameisen, ihren Eier und Larven. Dazu hebt er solchen Belag bzw. Bewuchs mit dem Schnabel an.
Mit seiner langen Zunge, die reich an Tastkörperchen ist, gelangt er durch kleinste Ritzen im Holz und ergattert dort, ohne zu hacken, seine Beute.
Entdeckt der Grünspecht im Boden Ameisennester, dann schlägt er sie mit seitlichen Schnabelhieben auseinander.
Bei tieferliegenden Nestern oder Gängen hackt er mit dem Schnabel in den Boden und hinterlässt trichterförmige Löcher. Schon das Hacken alarmiert die Ameisen, lässt sie wild herumlaufen und zur Beute des Grünspechts werden.
Die letzte Version des Beutemachens demonstrierte der junge Grünspecht in unserem Garten. Sein Hämmern und Stochern im Boden hinterlässt Löcher in der Pflanzendecke, die – wie oben auf dem Foto zu erkennen – mehr oder minder kreisrund sind.
Auffällig ist, wie häufig der junge Grünspecht den Kopf hebt und sichert – also die Umgebung kontrolliert. Das Spechtmädchen ist also im wahrsten Sinne des Wortes umsichtig, aber das ist durchaus typisch für Vögel, die am Boden auf Nahrungssuche sind. Ohne Frage hatte sie mich wahrgenommen und prüfte, ob von mir eine Gefahr ausging.
Eine ganze Weile konnte ich den Jungvogel noch beobachten. Doch er wurde zunehmend unruhig und stocherte nicht mehr. Als es im Nachbargarten immer lauter wurde, flog das Grünspecht-Weibchen plötzlich davon.
Nachschlag: wenige Tage später
Kaum hatte ich diesen Blogpost veröffentlicht, hielt der junge Grünspecht – oder war er mit Eltern oder Geschwistern unterwegs ? – für mich eine Überraschung bereit. Die Grasnarbe des Gartens war frühmorgens kräftig aufgehebelt und umgelegt.
Gerne hätte ich dem Grünspecht bei seinen Wühlarbeiten zugeschaut, aber immerhin zeigt das Detailfoto, wie konsequent die Grasnarbe aufgebrochen wird, um darunter nach Nahrung zu suchen.
* Mit freundlicher Genehmigung der VerlagsKG Wolf, Magdeburg
** Ursprüngliche Skizze der Spechtzunge durch neue Grafik ersetzt (25.10.2022)
¹ Wenn der junge Grünspecht die Bruthöhle verlassen hat werden er und seine Geschwister noch rund drei Wochen von den Altvögeln betreut und teils mit Nahrung versorgt.
² Die hellen Kotwürstchen bestehen vornehmlich aus dem Chitin von Ameisen.
Grünspecht | Pic vert | Green Woodpecker | Picus viridis
Danke für die Erklärungen und die Zeichnung zur Zunge. Auch wir beobachten seit etwa drei Jahren regelmäßig einen Grünspecht in unserem Garten, der möglicherweise seine Bruthöhle in einem alten Apfelbaum hat. Er pickt nach Ameisen im Rasen; davon haben wir ziemlich viele, weil er trocken und voller „Unkräuter“ ist. Zu unserem Bedauern – aber unseren Grünspecht freuts.
Er hat auch einen ganz eigenen Ruf und mittlerweile erkennen wir ihn schon an seiner Stimme. Ich habe ihn gerade kürzlich von einem Dach in der Nachbarschaft gehört. Bleibt er eigentlich im Winter da?
Liebe Rosemarie Mieder, du hast Glück (und ich auch). Die Grünspechte bleiben uns im Winter erhalten. Sie gelten als „ausgesprochene Standvögel“, ziehen also nicht. Und in dem wunderbaren Buch „Spechte & Co“ lese ich: stark auf Wiesenameisen spezialisiert, im Winter z.T. auch Waldameisen. Auch gilt er als „sehr stimmfreudig“. Sein Ruf klingt wie „kükükük“, und sein Gesang wird als ein kehliges „glückglückglück“ beschrieben.
Ich grüße dich!
Sehr interessant, da ich den Grünspecht, sowie auch den Schwarzspecht, in jedem Jahr bei mir an den Ästen klopfen höre und noch nie auf dem Boden beobachten konnte. Jedoch vor Jahren habe ich Aufnahmen an einem Maisenknödel gemacht, der von einem Buntspechtweibchen mit ihrem Jungen sorgfältig bearbeitet wurde
M.W.
Toll! Solche Aufnahmen sind mir noch nicht gelungen, aber ich kenne das auch, dass der Buntspecht am Meisenball hängt. Meine Erfahrung ist, dass Grünspechte am Boden besonders vorsichtig sind. Sie sind dort ja auch praktisch ungeschützt – und hochgradig gefährdet.
Viele Grüße