Anfang Oktober ist die Hochzeit des Vogelzugs, und es ist die Zeit, in der wir den einen oder anderen Starenschwarm beobachten können. Zum Beispiel im Wattenmeer an der Nordseeküste, wo eine bekannte Zugroute verläuft. Auch Arten wie Weißwangengans und Kiebitz, Wiesenpieper und Steinschmätzer ziehen hier in größeren Gruppen durch.
Am auffälligsten und ein unglaubliches Naturereignis sind sicherlich die Ansammlungen der Stare. Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, diese außergewöhnlich sozialen Wesen mehrmals zu beobachten. Das Gruppenleben liegt ihnen generell. Aber erst nach der Brutzeit bilden sie zunächst kleine, dann immer größere Schwärme, bevor sie zu zigtausend oder sogar Millionen unterwegs sind.
Stare in Zugstimmung sammeln sich auf Überlandleitungen, auf Dächern und abgestorbenem Geäst. Nicht grundlos: In der Gruppe ist das einzelne Individuum besser geschützt, denn Starenjäger wie Wanderfalke, Habicht und Sperber werden beim Zustoßen durch die Masse der unkalkulierbar fliegenden Vögel verwirrt.
An einem Sammelplatz wie diesem abgestorbenen Baum im brandenburgischen Nuthe-Nieplitz Naturpark sind Stare allerdings nicht sicher. Die Nacht verbringen sie daher anderweitig, zum Beispiel im Schilf.
Das plante auch diese Starenschar, deren Versammlungsort sich in der Abendsonne direkt an einem Teich mit breitem Schilfgürtel befand.
Wie es wirkt, wenn solche Scharen dann etwas später ins Schilf – auch Rohr genannt – einfallen, hat Wolfgang Schneider in seiner Monographie Der Star sehr anschaulich beschrieben (Die Neue Brehm-Bücherei, Bd. 248, 1972, Wittenberg/Magdeburg).
Ich zitiere daher eine Passage von Seite 73
Mit gewaltigem Brausen fliegen sie abends etwa 20 bis 30 Minuten vor Sonnenuntergang die Schilfwälder der Teichgebiete an, sammeln sich, fallen brausend ins Schilf ein, erheben sich immer wieder und kommen noch längst nicht zur Ruhe, wenn sie endgültig für die Nacht in den Rohrbeständen eingeflogen sind.
Starenschwarm an der Nordsee
Nicht nur die Nacht verbringen Stare im Schilf beziehungsweise „im Rohr“ oder in Röhrichtflächen, wo sie sicher sind. Mit anderen Worten: unsichtbar für Greifvögel und nicht zu erreichen für vierbeinige Prädatoren wie Fuchs & Co., die ungern nasse Füße bekommen. Auch tagsüber suchen sie dort oder zwischen langhalmigen Wiesenkräutern Schutz. Wie sie darin förmlich wegtauchen, konnte ich kürzlich an der Wesermündung bei Cappel-Neufeld im Bereich des Nationalpark Wattenmeer beobachten.
Aus der Ferne zeigte sich tatsächlich das, was im Handbuch der Vögel Mitteleuropas (Urs N. Glutz von Boltzheim, Bd.13/III, DVD, Aula-Verlag) steht, Seite 2095
… bei kleineren Schlafgemeinschaften trudeln die Vögel regellos wie schnellfallende Blätter im Zickzack-Kurs oder seitwärts gleitend hinab.
Was als Foto an einem trüben und windigen Tag wenig spektakulär aussieht, lässt im Bewegtbild zumindest mich immer wieder erstaunen. Die Stare – und ich zeige in diesen zwei Videoschnipseln nur einen kleinen Teil der Gruppe – verschwinden einfach. Nach dem Motto: Wir sind dann mal weg.
Stare im Anflug
Stare machen sich unsichtbar
Der innere Zeitplan
Dass viele Vogelarten in der kalten Jahreszeit wegziehen, weil sie hierzulande nicht ausreichend Nahrung finden, ist bekannt.
Spannend ist die Frage, wie es dazu kommt. Was bringt die Vögel dazu? Der Abzug erfolgt ja, bevor ihnen in Deutschland, in Skandinavien oder im nördlichen Osteuropa das Futter ausgeht.
Ausschlaggebend ist zum einen die biologische Jahresuhr. Deren ererbter circannualer Rhythmus wird von der Tageslänge beeinflusst. Werden die Tage kürzer, ist das eine Art Startzeichen für den Herbstzug. Dahinter stecken hormonelle Veränderungen, die zum Beispiel dafür sorgen, dass der Federwechsel unterbrochen oder abgeschlossen wird.
Dass es bald losgeht, drückt sich zudem in der sogenannten Zugunruhe¹ aus: Die Vögel werden hibbelig. Das kennt man schon lange von wildgefangenen, gekäfigten Vögeln. Sie hüpfen zur Zugzeit im Käfig intensiv auf ihrer Stange herum. Kluge verhaltensbiologische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Hüpferei nicht nur an die Jahreszeit des Wegzugs gebunden ist, sondern zudem gerichtet erfolgt. Mit anderen Worten: Vögel, die im Herbst nach Südwesten ziehen, richten sich auch beim Hüpfen so aus.
Ein weiterer überlebenswichtiger Punkt bezieht sich auf die Nahrungsaufnahme. Die Vögel fressen mehr als sie verbrennen und lagern enorme Fettreserven ein. Der Biologe Michael Wink hat das in seiner schönen Einführung in die Vogelkunde (Ornithologie für Einsteiger, 2014, Heidelberg, Springer Verlag) so beschrieben, Seite 336
Vor dem Abzug zeigen viele Zugvögel eine besondere „Fraßgier“ (Hyperphagie), die zu einer ausgeprägten Fettleibigkeit führt. Insektenfressende (insektivore) Singvögel tendieren in dieser Phase dazu, besonders viele zuckerhaltige Früchte (z.B. Holunder …) zu verzehren.
Wie mächtig die angefressenen Fettreserven sind, hängt natürlich davon ab, ob und wie oft die Vögel während des Zugs auftanken können – und davon, wie weit sie fliegen. Stare ziehen nicht weit, sie sind keine Langstreckenzieher, sondern Kurzstreckenzieher und je nach Region und Witterung sogar Standvögel.
Starenschwarm zur Zugzeit
Eine Starenschar – ob groß oder klein – ist an ihrem Flugverhalten meist gut zu erkennen: Die Vögel fliegen anders als Gänse oder Kraniche nicht in V-Formation mit einem Vogel an Spitze, der praktisch die Richtung vorgibt, sondern eher als wilder Haufen. Die Abstände zwischen den einzelnen Vögeln liegen üblicherweise bei etwa 2 Metern.
Ziehende Stare sind vor allem am Tag zu sehen, aber auch nachts unterwegs. Sie navigieren unter anderem mit Hilfe des angeborenen Richtungssinns, berücksichtigen den Sonnenstand und lernen beim ersten Herbstzug den „richtigen” Weg und den Zielort. Bei ungünstigen Witterungsbedingungen, speziell bei starkem Gegenwind, schonen insbesondere kleine Vögel ihre Kräfte und warten ab. Stare bleiben dann möglichst im Schilf.
Hin und wieder wird eine solche Schar aber durch tieffliegende Greifvögel aufgeschreckt und hebt ab, oder die Zugunruhe treibt sie hoch. Ein solches Schauspiel sah ich um die Mittagszeit in großer Entfernung von Spieka-Neufeld aus. Vielleicht lag es an dem Wanderfalken, der hier seine Kreise zog.
Angesichts dieser dichten Wolke stellt sich die Frage, wie sich die temporeich fliegenden Vögel abstimmen. Sie sind ständig in Bewegung und ändern dauernd ihre Position im Schwarm, aber zu Kollisionen kommt es nicht. Zugleich entstehen durch ihre Flugmanöver am Himmel wunderbare sphärische Bänder, Wellen, Trichter und kugelförmige Haufen. Und sekundenschnell ändert sich die Formation.
Soviel ist wissenschaftlich geklärt: Die Stare im Schwarm orientieren sich visuell am Flugverhalten ihrer unmittelbaren Nachbarn. Und sie haben nicht nur diese im Auge, sondern auch weiter entfernte Artgenossen. Gern wird das Verhalten der Stare mit Fans im Fußballstadion verglichen: Diese stehen nicht erst auf, wenn die La Ola-Welle da ist, sondern sehen sie kommen und stellen sich zuvor darauf ein. Im Handbuch der Vögel Mitteleuropas lese ich dazu, Seite 2096
Die abrupte und scheinbar völlig konforme Reaktion aller Individuen bei der Änderung von Form, Tempo und Richtung des Schwarms kommt durch visuelle Kommunikation zustande. Zeitlupenaufnahmen zeigten, dass akzentuierte Flugbewegungen einzelner Vögel an beliebiger Stelle des Schwarms sich wellenförmig ausbreiten.
Vogelschwärme in der Weite der Landschaft zu beobachten, ist definitiv ein Erlebnis. Ich hoffe daher, dass viele Menschen die Zugvogeltage an der Nordsee nutzen, um bei dem üblichen Mix aus Sonne, Wind, Nebel und Regenschauern solche Wunder der Natur zu entdecken.
¹ Dieser Begriff hat sich auch in der englischsprachigen Literatur durchgesetzt. „Zugunruhe a German term for the noctual restlessness that caged migratory birds exhibit, when they are ready to migrate” heißt es im Handbook of Bird Biology (Hrsg. I.J. Lovette & J.W. Fitzpatrick, Wiley 2016, S. 472)
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ein sehr schöner Artikel mit tollen Videos, danke!