Das kleine, oft aufgeplustert dasitzende Rotkehlchen tut uns einen großen Gefallen: Es bleibt immer häufiger im Winterhalbjahr hier, also wenn viele Vogelarten nach Süden verschwinden. Zudem leuchtet seine rote Kehle ab dem Spätherbst besonders schön. Denn Ende Oktober ist die Vollmauser der Rotkehlchen beendet. Die hübschen Vögel tragen dann ein frisches, unverwechselbares Federkleid.
Und weil nun mehr und mehr Laub von den Bäumen fällt, lassen sich Rotkehlchen bei Spaziergängen oft gut beobachten – zumal sie eine kräftige Stimme haben, wenn es darauf ankommt.
Kürzlich begegnete mir ein Rotkehlchen am Heiligen See in Potsdam. Vormittags war der Besucherandrang dort nicht allzu groß, und im Novemberdunst grüßte das Marmorpalais idyllisch vom gegenüberliegenden Ufer.
Gerade war an der benachbarten Havel erst einer, dann ein zweiter blau-schillernder Eisvogel an mir vorbeigezischt, als ich das Rotkehlchen sah – beziehungsweise es hörte. Offenbar war ich dem knapp sperlingsgroßen Kerlchen unbedacht zu nahe gekommen. Es „beschwerte sich“ jedenfalls über diese Störung.
Bitte nicht stören
Um zu warnen oder ihr Revier zu präsentieren, nutzen Vögel neben Vokalisationen – also akustischen Signalen – oft auch Ausdrucksbewegungen – also optische Signale. Das sind in der Regel Bewegungen aus dem üblichen Verhaltensrepertoire der Art, die gezielt und manchmal „übertrieben“ eingesetzt werden, um etwas zu kommunizieren.
In der Verhaltensbiologie, auch Ethologie genannt, sprechen wir heutzutage an dieser Stelle – also bei den optischen Signalen – meist von „Display“, einem Lehnwort aus dem Englischen.
Der deutsche Begriff „Zur-Schaustellen“, den Rudolf Pätzold verwendet, trifft es meiner Meinung nach auch sehr gut. (Das Rotkehlchen, Die Neue Brehm-Bücherei 520, 1979 Lutherstadt Wittenberg/2004 Magdeburg)
Rufe sind kein Gesang
Vor Greifvögeln wie dem Sperber, Katzen und anderen gefährlichen Säugetieren – inklusive dem Menschen – zu warnen, das machen Vögel vor allem mit ihren Rufen. Sie nutzen dazu also nicht den jeweils arttypischen Gesang, von dem eine Gesangskünstlerin wie die Nachtigall viele Elemente in ihren ersten Lebensmonaten erlernen müssen, sondern sie rufen.
Rufe klingen innerhalb einer Art von Vogel zu Vogel weitgehend identisch, weil sie im Erbgut – also genetisch – gut verankert sind. Das macht sie als Signal zuverlässiger als ein Gesang, der von jedem Individuum neu gelernt werden muss und dadurch Umwelteinflüssen unterliegt.
Der folgende Videoausschnitt am Rand des Neuen Gartens in Potsdam ist nicht gefiltert und enthält daher natürliche Atmo samt Hundegebell und Nebelkrähen.
Üblicherweise sind Rufe meist schlicht und kurz, können aber aneinandergereiht werden. Und wie gesagt: Sie werden nicht erlernt, sondern sind ererbt – werden sozusagen mit den Genen von Ei zu Ei oder von Generation zu Generation transportiert.
Manche Vogelrufe sind leise, kaum wahrnehmbar – etwa die an Nestlinge gerichteten Kontaktlaute. Andere sind durchdringend. Das Rotkehlchen zum Beispiel leistet sich laute, fast drohende Rufe, wenn es sich gestört fühlt. Seine Ruftiraden setzen sich aus „zik“-Elementen zusammen, die der kleine Vogel mal kürzer, mal länger aneinanderreiht.
Der „Sitzplatz“
Wie anfangs erwähnt bleiben viele Rotkehlchen im Winter bei uns, solange es nicht zu kalt wird. Sie sind Teilzieher. Manche von ihnen starten in Richtung Niederlande, Frankreich oder Spanien, sobald es kälter wird. Andere kommen aus Nordosteuropa zu uns und verbringen hier den Winter.
Sowohl die heimischen, standorttreuen Vögel als auch die zugereisten machen es uns in der Tat leicht, sie zu beobachten. Zum einen sind Rotkehlchen nicht besonders scheu, zum anderen liegt ihr Lebensraum in einem Bereich, der auch ohne Fernglas leicht zu erkunden ist.
Ich fand in der Neuen Brehm-Bücherei (Das Rotkehlchen, 1979, Seite 27) eine wunderbare Grafik, die genau das illustriert: Während etwa die Ringeltaube hoch oben in den Bäumen sitzt, auch Blau- und Schwanzmeise sich gerne weiter oben herumtreiben, ist das Rotkehlchen eher bodenständig oder in Sträucher zu finden.
Mit anderen Worten: Es bewegt sich oft auf Augenhöhe, nicht in den allerhöchsten Wipfeln.
Das Rotkehlchen war ursprünglich ein Waldbewohner. Heute zeigt es sich oft an Feldrändern, aber auch in der Stadt: in naturbelassenen Gärten, Grünanlagen und auf „unordentlichen“ Friedhöfen fühlen sich Rotkehlchen wohl, sofern sie Unterholz, verrottendes Laub und Feuchtigkeit – beziehungsweise ein kleines Gewässer – vorfinden. Rudolf Pätzold drückt die Ansprüche an das Habitat so aus, Seite 27
Charakterisiert wird der Lebensraum des Rotkehlchens in den Sommerwäldern auch durch Laubabwurf in der kalten Jahreszeit, der zu Rohhumusbildung führt und damit eine reiche Bodenfauna begünstigt.
Die Verwandtschaft
Das Rotkehlchen hat eine attraktive Verwandtschaft: Dazu gehören Nachtigall und Sprosser, die wie auch Haus- und Gartenrotschwanz im November längst in den Süden oder nach Südwesten gezogen sind. Gleiches gilt für Braunkehlchen und Schwarzkehlchen, den Heckensänger und die Gruppe der Steinschmätzer. Sie alle gehören zur Gruppe der Fliegenschnäpper (Muscicapidae)¹ und haben uns im November längst verlassen.
Dass das Rotkehlchen bei uns als Teilzieher² gilt und oft nicht wegzieht, hat auch mit seiner Ernährung zu tun. In der warmen Jahreszeit fressen sie Insekten in allen Entwicklungsstadien, das heißt als Ei, Raupe oder flugfähiges Insekt. Auch Ringelwürmer wie den Regenwurm und kleine Schnecken stehen auf ihrem Speiseplan, während sie sich für Tausendfüßer und Feuerwanzen eher nicht begeistern. In Versuchen lassen sie diese jedenfalls liegen, berichtet Rudolf Pätzold (a.a.O. Seite 28).
In den kälteren Monaten sind Käfer eine ihrer animalischen Hauptspeisen.
Aber die Vögel wechseln in dieser Zeit zu vorwiegend vegetarischer Kost:
Vogelbeeren, Himbeeren, Johannis- und Brombeeren wie auch die Früchte von Seidelbast, rankendem Wein, Efeu und Traubenkirsche stehen auf dem herbstlichen Speiseplan. Selbst Gartenfrüchte wie Birnen, Äpfel und Pflaumen schmecken den Rotkehlchen.
Im Frühjahr ist dann animalische Kost für adulte Vögel und als Nahrung für die Jungen unersätzlich.
Große und kleine Unterschiede
Männchen und Weibchen sind einander im Federkleid übrigens sehr ähnlich. Die Kleinen unterscheiden sich jedoch stark von den Eltern und sind zunächst unauffällig getönt. Johann F. Naumann formulierte das in der Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas (1905, 3. Aufl., Bd. I, S. 21) vor weit über 100 Jahren so, Seite 21
Dieser bekannte Vogel kann alt nicht leicht mit einer anderen Art verwechselt werden. Im Jugendkleide ist es aber schwerer, ihn von anderen jungen Sängern mit gefleckten Gewändern zu unterscheiden, namentlich von den jungen Nachtigallen, denen sie täuschend ähnlich sehen…
Dass Rotkehlchen bei der Futterwahl wenig wählerisch sind und im Winterhalbjahr von animalischer Kost auf weitgehend vegetarische Kost umschwenken, ist eine Voraussetzung dafür, auch kältere Winter gut zu überstehen.
Mindestens ebenso wichtig ist allerdings, dass in den Gärten und Parkanlagen das Herbstlaub unter den Büschen liegen bleibt und endlich das große „Reinemachen” mit Laubsauger und Laubbläser aufhört.
Denn: Gerade unter verrottenden Blättern, die außer den Rotkehlchen auch die Amseln ständig wenden, finden Vögel im Winter wichtige Insektennahrung.
¹ Von manchen Autoren werden Rotkehlchen weiterhin zur Familie der Drosseln (Turdidae) gerechnet. Das ist nicht mehr aktuell. Drosseln und Fliegenschnäpper gelten indes als nah verwandt.
² Ausführliches zu den genetischen Faktoren und Umweltfaktoren, die das Zugverhalten bestimmen, findet sich in Vogelzug von Peter Berthold (aktuell: 7. Aufl., Darmstadt 2017).
Rotkehlchen | Rouge-gorge | Robin | Erithacus rubecula
Heute wurde das Rotkehlchen zum „Vogel des Jahres“ 2021 gekürt. Der kleine Singvogel ist auf jeden Fall ein hübscher Muntermachen und ein attraktiver Preisträger. Letzten November traf ich einen kecken Vertreter in Potsdam.
Und frühere Jahresvögel findet ihr in der rechten Seitenleiste dieses Vogelblogs. Dazu etwas herunterscrollen.