Nisten am Fels

Rote Felseninsel Helgoland mit vorne grünem Bewuchs, dem Meer und der Langen Anna.
Helgoland mit der „Langen Anna“

Auf Helgoland brütet die Dreizehenmöwe seltener als noch vor einigen Jahren. Das hörte ich kürzlich auf der Jahrestagung der Deutschen Ornithologen Gesellschaft (DO-G) in Wilhelmshaven. Der rote Felsen mit seinen steil abfallenden Wänden ist in Deutschland der einzige Brutplatz dieser aparten Möwenart, deren Verbreitungsgebiet sich im Atlantik und Pazifik sehr weit nach Norden erstreckt.

Aber nicht nur auf Helgoland, in der gesamten Nordsee brechen die Bestände ein. Da ist es höchste Zeit, sich der Dreizehenmöwe und ihren Ansprüchen an das Habitat zu widmen. Über sie schrieb der von mir so geschätzte deutsche Ornithologe Johann F. Naumann Mitte des 19. Jahrhundert in seinem prächtigen Werk*, Seite 289

Die Dreizehenmöwe ist ganz Seevogel; nur das salzige Meerwasser sagt ihr zu. Nicht allein bei Klippen und Inseln trifft man sie an, sondern zu manchen Zeiten auch viele Meilen vom Lande, mitten auf offenem Meer.

Bereits im 19. Jahrhundert wurde beobachtet, dass diese Möwen den Ozeandampfern weit aufs offene Meer hinaus folgen. Bei individuell markierten Vögeln ließ sich sogar belegen, dass sie einzelne Schiffe von den USA bis in die Nordsee begleiten.

Roter Felsen, der steil ins Meer abfällt.
Die Steilküste ist Brutgebiet von Trottellummen, Basstölpeln, Dreizehenmöwen und dem Tordalk.

In den Sommermonaten lassen sich diese sehr hellen, dreizehigen Möwen mit dunklen Beinen und gelbem Schnabel am sogenannten Lummenfelsen von Helgoland gut beobachten: Wie aufgereiht sitzen sie in fast waagerechten, galerieartigen Felsnischen auf ihren Nestern. Diese formen sie aus Wasserpflanzen und Schlamm.

In anderen Galerien hocken die dunklen Trottellummen auf meist sehr schmalen Absätzen und kümmern sich um Eier und Junge – übigens auf nacktem Fels und ohne ein Nest zu bauen. Dort, wo der Platz ausreicht, lassen sich die kompakten Basstölpel nieder, während einige Tordalk-Paare in eigenen Nischen brüten.

Brutvögel am roten Fels von HelgolanDrei Galerien mit Seevögeln zur Brutzeit am Fels von Helgoland

oben: Dreizehenmöwen

mittig: Trottellummen
und Basstölpel

unten: Dreizehenmöwen

Der Name „Dreizehenmöwe”

Möwen haben üblicherweise vier Zehen, die mit Schwimmhäuten verbunden sind. Bei der Dreizehenmöwe ist die vierte, nach hinten gerichtete Zehe, stark reduziert. Sie wirkt wie eine kleine Warze. Vermutlich wird diese Zehe einfach nicht benötigt. Und wer auf schmalen Felsabsätzen Platz finden will beziehungsweise in den extrem dichten Kolonien auf den Vogelinseln des Nordatlantiks, der kann sie sich offenbar sparen.

Sowohl der wissenschaftliche Artname Rissa tridactyla wie auch der deutsche und der französische Name Mouette tridactyle greifen das Thema auf: tri (gr.) steht für drei und dactylos (gr.) ist der Finger. Und bei Viktor Wember lese ich, dass Rissa sich vom isländischen Namen der Möwe ableitet: rita.

Die Nester der Dreizehenmöe auf kleinen Absätzen an der Steilküste
Auf kleinsten Absätzen brütet die Dreizehenmöwe am Steilhang; rechts ihre Nester

Das Möwenblau

Porträtaufnahmen von der Dreizehenmöwe kann ich leider nicht bieten, denn die Brutplätze sind auf Helgoland von den Beobachtungsstandpunkten aus weit entfernt. Mit einem guten Fernglas sieht man die Vögel so, wie auf den folgenden Fotos.

Ornithologische Bestimmungsbücher wie der empfehlenswerte Svensson bilden jedoch das Wesentliche gut ab. Außerdem macht diese Beschreibung von Johann F. Naumann anschaulich klar, worauf es ankommt, Seite 288

Das hochzeitliche oder ausgefärbte Sommerkleid ist am Schnabel fast rein zitronengelb. Die Spitze schwefelgelb, Rachen, Mundwinkel und Augenlidrändchen glühend orange oder hochrot, die Füsse dunkelbraunrot, Kopf und Hals alle ohne Flecken; die Teile bis an den Anfang des Rückens, die Brust und die ganze Unterseite des Vogel, der Bürzel, sämtliche Schwanzdeckfedern, nebst dem Schwanze sind weiss von bleibender Reinheit; der Mantel ungemein zart und schön mövenblau …¹

Dreizehenmöwen sind elegante Flieger, die sich weit aufs offene Meer begeben, um kleine Fische zu ergattern. Im Flug sind sie an den hellgrauen Flügeln – Naumann spricht ja hier von einem Möwenblau – und den schwarzen Flügelspitzen gut zu erkennen.

Drei fliegend Möwen über grauem Meerwasser

Kleine Fische

Die Dreizehenmöwe ernährt sich hauptsächlich von Fischen, die sie nah unter der Wasseroberfläche mit dem Schnabel packt. Von einem 10 bis 25 m hohen Suchflug über dem Meer stoßen die Vögel plötzlich herab und tauchen etwa einen halben bis einen Meter ins Wasser ein. Nicht nur durch ein solches Stoßtauchen, sondern auch auf dem Wasser schwimmend können sie unvermittelt abtauchen.

Offenbar „plündern“ Dreizehenmöwen auch Fischschwärme, die etwa von Robben aus größerer Meerestiefe nach oben getrieben werden. Und dort, wo menschliche Fischer den Beifang ins Meer schütten, verfolgen die pfiffigen Möwen deren Boote und erleichtern sich so die Nahrungssuche.

Aber nicht allein kleine Fische machen ihre Nahrung aus, sie verzehren auch Ruderschnecken und Krebstiere.

Der Brutplatz

Schon im Ende Januar oder im Februar finden sich Dreizehenmöwen an ihren vorjährigen Brutplätzen ein – das können übrigens auch Bohrplattformen sein. Aber erst Ende Mai werden die 2 – 4 Eier ins Nest am Klippenrand gelegt. Beim Brüten wechseln sich die Eltern, die einander äußerlich gleichen, übrigens partnerschaftlich ab.

Mehrer Nester mit brütenden Dreizehenmöwen in einer Felsnische nebeneinander

Sind die Brutplätze einmal besetzt, sind Dreizehnmöwen untereinander verträglich. Nur wenn ihnen oder dem Nest ein Artgenossen zu nahe kommt, wird ihm oder ihr der Kopf mit leicht geöffnetem Schnabel zugewandt. Reicht das nicht, wird der Schnabel weiter aufgerissen und dem Gegenüber der orange-rote Rachen drohend demonstriert.

Bei körpernahen Auseinandersetzungen versuchen Kontrahenten sich gegenseitig am Schnabel zu packen und den Kopf des Gegners hin und her zu drehen. So lässt sich erreichen, dass er oder sie den Sims verlassen muss.

Sieben Dreizehenmöwen auf Nestern

Abenteuerlich sehen die Wechsel am Brutplatz aus. Da begrüßen Männchen und Weibchen einander mit Verhaltensweisen aus dem Balzgeschehen, etwa mit wiegenden Kopfbewegungen wie im folgenden Videoausschnitt gezeigt. Aber es wird sicher auch verhandelt, ob tatsächlich eine Ablösung stattfinden soll. – Bei vielen Vogelarten lässt sich beobachten, dass der oder die Brütende gar nicht unbedingt den Platz verlassen will.

Die angehenden Eltern wechseln sich am Brutplatz ab: gut zu sehen beim Paar in der Mitte.

Wer Helgoland besucht, der kann zwischen Mai und August das Brutgeschäft der Dreizehenmöwe am Lummenfelsen verfolgen. Die Küken schlüpfen im Juli, und im August werden sie flügge. Aber auch außerhalb der Brutzeit ist mit Dreizehenmöwen an der roten Felseninseln und in der Deutschen Bucht insgesamt zu rechnen, während die Silbermöwen gerade auf Helgoland eher selten sind.

Hitze als Bedrohung

Die Frage, warum die Bestände an Dreizehenmöwen in der Nordsee zurückgehen, ist nicht geklärt. Es könnte an ausbleibenden Fischschwärmen liegen oder an steigenden Temperaturen im Sommer. Vielleicht wird es den kälteliebenden Hochseemöwen bei uns zu warm.

Zumindest am südwestlich ausgerichteten Kliff von Helgoland steigt das Thermometer manchmal so stark an, dass Vögel nicht erfolgreich brüten. Möglicherweise bleiben sie dadurch im Folgejahr weiter im Norden, etwa auf Island oder Grönland, den Färöern, der Bäreninsel oder an der Felsküste Norwegens inklusive der Lofoten.

Steiles rotgefärbtes Kliff mit sonnenbestrahlung und vielen Seevögel
Hohe Sonneneinstrahlung am Kliff von Helgoland

Dreizehenmöwe: im Kochtopf und als Modeschnickschnack

Aus heutiger Sicht ist es ein Unding, aber früher wurden Möwen geschossen und ihre Eier in großen Mengen gesammelt.² Was das Fleisch der Dreizehenmöwe angeht, galt es zwar nie als Leckerbissen, aber im „Naumann“ lese ich in Bezug auf die Küche Helgolands, Seite 293

Ihr Fleisch wird trotz eines „gewissen grönländischen Geschmacks“ von den Inselbewohnern gern gegessen, am liebsten in Form einer originellen Pastete, die aus Gerstengrütze und Mövenfleisch in schichtweiser Abwechslung in einer steinernen oder messingenen Form im Backofen geschmort wird.

Während Möweneier früher vielerorts am Strand und in den Dünen auch von Kindern oder der ganzen Familie gesammelt wurden, machten es speziell die Dreizehenmöwen den Menschen nicht so leicht, a.a.O. Seite 293

Die Eier werden … allgemein sehr schmackhaft gefunden, in großer Menge verspeist und deshalb, um zu ihnen zu gelangen, die Felsen so weit wie möglich und mit größter Lebensgefahr erklettert, teils von unten auf, teils und öfter von einem oben von einigen Personen gehaltenen Seile aus der Höhe herab…

Doch nicht nur Fleisch und Eier der Dreizehenmöwe waren für Menschen ökonomisch interessant, auch die Haut samt Federn – also der Balg. Mit den Federn wurden die Betten gefüllt, und bei Modemachern waren die Federn begehrt. Sie zierten damals Damenhüte und Muffs.

Als auf der Tagung der Deutschen Ornithologen Gesellschaft die Daten zum Bestand der Dreizehenmöwe bis ins Jahr 2021 auf Helgoland gezeigt wurden. Da hatte ich mich zunächst über eine Lücke gewundert:

In zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhundert war ihr Vorkommen als Brutvogel bereits registriert worden, nämlich zwischen 1830 und 1849. Anschließend klaffte eine fast 100jährige Lücke. Erst 1930 – und seither durchgängig – sind wieder brütende Dreizehenmöwen auf Helgoland zu sehen.

Es ist keine Frage, dass der Einbruch auf das Konto von unbedarften Eiersammlern³ und kuriosen Modeerscheinungen geht. Die Wiedererholung des Bestands war vor allem eine erfreuliche Folge des aufkommenden Naturschutzgedankens.

Mehrere helle Dreizehnmöwen auf Felsen i Meer und ein Basstölpel der zum Lummenfelsen und als auf uns zu fliegt.
Ruhende Dreizehenmöwen auf von Algen bewachsenem Fels an der Steilküste Helgolands

 

  • Aus dem Werk des Ornithologen Johann F. Naumann zitiere ich sehr gerne, denn ihm gelingt es, Tiere und ihr Verhalten anschaulich zu beschreiben. Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas, 1887-1905, 3. Aufl., Bd. III, S. 315

    ¹
    Der Mantel eines Vogel ist genaugenommen sein Rücken. Teils wird er von den zusammengefalteten Flügeln bedeckt. Das silbergraue Gefieder bezeichne Naumann als „möwenblau”. Und wie die Silbermöwe zählt er die Dreizehenmöwe zu den Blaumänteln. Heringsmöwe und Mantelmöwe rechnet Naumann hingegen zu den Schwarzmänteln.
    ² Moderne Massentierhaltung etwa von Legehennen in langweiligen, hochtechnisierten Ställen ist natürlich auch ein Unding.
    ³ Wer keine Eier im Nest belässt, gräbt sich selbst die nächste Eier-Ernte ab.

Dreizehenmöwe | Mouette tridactyle | Black-legged Kittywake | Rissa tridactyla



Liebe Fans meiner Fotos, ich freue mich, wenn euch das eine oder andere Foto so gefällt, dass ihr es von meiner Website herunterladen möchtet. Allerdings sind alle mit ©Copyright geschützt. Darum fragt mich bitte per E-Mail vor jedem Download. Elke Brüser

2 Kommentare zu “Nisten am Fels

  1. Liebe Frau Brüser,
    natürlich habe ich auch heute mit großem Interesse Ihren Blogbeitrag gelesen und möchte mich mit einem Literaturtip bei Ihnen melden: Scott Weidensaul, Auf Schwingen um die Welt. Die globale Odyssee der Zugvögel, München 2022
    Es steckt unglaublich viel Wissen in diesem Buch und es ist interessant geschrieben. Vielleicht kennen Sie es ja noch nicht.
    Mit herzlichen Grüßen
    Susanne Wölfle-Fischer

    1. Ganz herzlichen Dank für Ihren Lesetipp. Darüber freue ich mich sehr, denn das Buch kenne ich noch nicht.

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