Der Vogelreichtum in der Nuthe-Nieplitz Niederung südlich von Berlin ist für Vogelbeobachterinnen wie mich immer wieder ein Genuss.
Anfang September traf ich dort recht unerwartet und binnen einer Woche gleich zweimal auf die so selten gewordenen Kiebitze. Sie gehören zur Familie der Regenpfeifer.
Gut bekannt sind mir die vielfältig schillernden, von unten schwarz-weißen leuchtenden Vögel aus meiner alten Heimat an der Nordseeküste, wo manche von ihnen im Sommer brüten.
Kiebitz-Überraschung am Boden
Das erste Mal wollte ich bei Zauchwitz nach Greifvögeln Ausschau halten, wollte genauer wissen, ob alle Fischadler schon nach Südwesten – also ins Winterqurtier Richtung Spanien, Portugal oder Westafrika – abgeflogen waren. Doch dann stieß ich am Beobachtungsstand zunächst auf eine Gruppe hungriger Kraniche im Maisfeld und hielt mich lange bei einem adulten Neuntöter auf, der von seinem Nachwuchs noch um Futter angebettelt wurde. Erfolglos übrigens.
Erst danach entdeckte ich plötzlich durch das Fernglas einzelne Kiebitze im feuchten Grün, und zwar von dem etwas maroden Beobachtungsstand aus. Unverkennbar waren die kecke Haube und ihre „Gangart”.
Ich bin sicher, dass diese Kiebitze hier nicht gebrütet hatten, sondern auf dem Durchzug waren. Denn Vögel aus dem Nordosten – etwa den skandinavischen und baltischen Staaten, Polen, Belarus und Russland – sind zurzeit bei uns unterwegs. Witterungsabhängig ziehen sie weiter westwärts, rasten im Wattenmeer und überwintern am Ärmelkanal oder der Atlantikküste.
Diese Kiebitze sind Passanten, die sich nach der Brut in Gruppen zusammenfinden, das Federkleid wechseln und sich auf den Weg nach Südwesten begeben. In Feuchtgebieten, auf nassen Äckern und Wiesen legen sie einen mehr oder weniger langen Zwischenstopp ein.
Die Vögel suchen dort Nahrung, etwa Insekten und deren Larven, Regenwürmern und kleinen Schnecken. Im Handbuch der Vögel Mitteleuropas¹ lese ich, dass sich der Kiebitz in geringem Maße auch pflanzlich ernährt. Magenanalysen ergaben Überaschendes, Seite 466
Unter den pflanzlichen Resten wurden Samen und Früchte verschiedener Wiesenpflanzen, aber auch vegetative Teile, sowie Reste von Moosen und Algen nachgewiesen. Mitunter finden sich in Einzelvögeln ansehnliche Mengen von Getreidekörnern …
Faszinierend, wie vorsichtig und hinter hohen Halmen nach Deckung suchend die Kiebitze unterwegs waren. Anfangs sah ich nur einzelne Vögel, aber schließlich liefen in einiger Entfernung mindestens acht Kiebitze in der Uferzone der Teichlandschaft zwischen Zauchwitz und Stangenhagen herum. Typisch ist ihre stakkatohafte Fortbewegung, die ihnen erlaubt, aufrecht stehend Beute zu orten und sie sich anschließend zu sichern – „einzuverleiben” könnte es eigentlich heißen. Aber der Begriff ist natürlich etwas antiquiert.
Kiebitz-Überraschung am Himmel
Als ich das zweite Mal auf Kiebitze stieß, stand ich am Weiher von Stangenhagen. Ich hatte mich dort zunächst über die vielen Graureiher und Graugänse gefreut, bevor ich lange den Löffelenten dabei zusah, wie sie das Wasser auf der Suche nach Nahrung durchseihten. Sie kamen dabei immer näher ans Ufer, nachdem sie mich offenbar als ungefährlich eingestuft hatten.
Von Zeit zu Zeit flog ein Schwarm Graugänse in V-förmiger Formation ein, sortierte sich in einer Längsreihe und wasserte auf dem Weiher. Meist wurden sie lauthals von ihren Artgenossen begrüßt.
Und dann das: Ein wolkenartiges Gebilde tauchte am Himmel auf, verformte sich und erwies sich als Kiebitzschwarm mit mindestens 150 Individuen. Schwarzweiß leuchteten unterseits ihre breiten, lappigen Flügel. Zu Recht heißen sie im Englischen „lapwings“ – wie auch das Eingangsfoto mit den ausgebreiteten „Lappenflügeln” illustriert.
Anders als die Graugänse zuvor, ließen sich die Neuankömmlinge nicht auf dem Wasser nieder, sondern sie schienen zunächst die Lage zu sondieren. Wohin?
Nachdem die Vögel über dem Weiher zweimal die Richtung gewechselt hatten, kamen sie der Antwort näher. Irgendwo am Schilf und in Wassernähe sollte offenbar der Landeplatz sein.
Schwarmverhalten
Es ist ein Phänomen, das ich immer wieder bestaune: Während der Brutzeit leben viele Vogelarten als Kleinfamilie oder Mutter-Kind-Einheit. Doch sobald die Jungen flügge werden, lösen sich diese Minigruppen auf. Die Jahreszeit, die innere Uhr und Hormone bewirken solche Verhaltensänderungen. Man hockt, fliegt und schläft nun in großen Gruppen und macht sich gemeinsam auf in Regionen, die das Überwintern erleichtern.
Im Spätsommer entstehen jedenfalls Schwärme, die je nach Art unterschiedlich strukturiert sein können. Und nicht nur bei Gänsen bestehen sie aus mehr als einer Art, auch bei den Kiebitzen fliegen beispielsweise oft Stare mit.²
Kiebitze – wie auch Stare – bilden nicht-hierarchisch organisierte Gruppen. Sie schließen sich locker zusammen und profitieren so von den Vorteilen eines Schwarms. Dazu zählt
Leichter satt werden: Wird von einigen Individuen viel Nahrung entdeckt, können alle mitessen.
Bessere Feinderkennung: Mehr Augen sehen mehr, mehr Ohren hören mehr …
Konfusion bei Beutegreifern: Prädatoren fällt es schwer, Beute aus einer Gruppe gezielt herauszugreifen. Die Menge verwirrt sie.
Obwohl schon länger versucht wird, mit Computermodellen herauszufinden, wie nicht-hierarchische Kollektive sich in eine bestimmte Richtung fortbewegen oder andere Entscheidungen treffen, sind noch viele Fragen offen. Manche werden am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell und an der Universität Konstanz erforscht.³
Eine gewisse Struktur in fliegende „Vogelhaufen“ bringen Simulationen mit Algorithmen, die ein paar schlichte Regeln berücksichtigen. Sie wurden so oder ähnlich schon mehrfach formuliert:
Vermeide Kollisionen mit anderen Schwarmmitgliedern
Passe dein Tempo den anderen Mitgliedern an
Vermeide zu große Abstände zu ihnen
Orientiere dich an deinen nächsten Nachbarn.
Ohne Chef oder Chefin: ziehende Kiebitze
Zurück zu meiner Beobachtung vor Ort, die mich etwas atemlos machte. So schnell ging alles. Was den Landeplatz betrifft, schien nun rasch eine Entscheidung vorzuliegen und für alle richtig zu sein. Die Kiebitze flogen immer tiefer, passierten die Graugänse und nahmen den schmalen Uferstreifen direkt am Schilf ins Visier.

Anflug zur Landung
Die folgenden Videoausschnitte sollen zeigen, wie der Schwarm einerseits als Einheit fungiert, andererseits die Kiebitze vor der Landung scheinbar unabhängig voneinander navigieren. Nicht alle im Schwarm fliegen geradlinig in dieselbe Richtung. Ihr Verhalten spricht eher für Meinungsverschiedenheiten oder Unentschlossenheit.
Während manche Individuen zur Landung ansetzen, machen andere nochmals eine Kehrtwendung.
Nach und nach finden sich alle Kiebitze am Boden vor dem Schilf ein
Wie aufgereiht standen die Vögel danach lange am mir gegenüberliegenden Ufer. Ich musste sie leider verlassen und nahm Abschied, als der letzte Kiebitz einflog, um sich zwischen den anderen niederzulassen.
¹ Handbuch der Vögel Mitteleuropas, herausgegeben von Urs N. Glutz von Blotzheim (Aula, CD-ROM, 1997, Bd. 6)
² Das ist kein Zufall: Stare und Kiebitze suchen in demselben Biotop nach Nahrung. Und Stare fliegen oft im Schwarm anderer Vogelarten mit.
³ Wolfgang Fiedler: Vogelschwärme. Warum Vögel gerne in Gruppen leben und welche spannenden Fragen sich daraus ergeben, Der Falke, 2022, Nr. 8 , S. 10-16
Kiebitz | Vanneau huppé | Northern Lapwing | Vanellus vanellus
0 Kommentare