Der schwarz-weiße Austernfischer hat mit seinem langen, orange-roten Schnabel, den tiefroten Augen und seinen leuchtend roten Beinen nicht nur ein attraktives Äußeres, auch sein Verhalten ist sehenswert. Es sich lohnt also, dem etwa Kiebitz-großen Watvogel zuzuschauen, wenn er im Watt der Nordsee nach Leckerbissen sucht, Muscheln oder Wattwürmer verzehrt.
Kürzlich überraschte mich ein einzelner Vertreter der Art am Jadebusen bei Wilhelmshaven, also im Bereich des naturgeschützten Niedersächsischen Wattenmeeres*.
Der Austernfischer (Haematopus ostralegus) landete ganz unverhofft in meiner Nähe und brachte mich etwas aus dem Konzept.
Denn eigentlich wollte ich die Fluss-Seeschwalben vom Banter See bei der Jagd auf kleine Fische beobachten. Tagszuvor hatte mich nämlich Sandra Bouwhuis auf den aktuellen Stand dieses einzigartigen Langzeitprojekts mit Seeschwalben gebracht – und davon werde ich in Kürze berichten. Die Biologin betreut diese wichtige Forschungsarbeit, die Peter Becker begründet und über Jahrzehnte verantwortet hat.
Austernbänke am Jadebusen
Während ich also noch nach Fluss-Seeschwalben Ausschau hielt, ließ sich dieser Austernfischer an der Wasserkante nieder. Das war womöglich kein Zufall, denn unterhalb des Weges, der sich um den eingedeichten Jadebusen zieht, haben sich am Gestein der Böschung neuerdings Austern angesiedelt. Es sind Vertreter der Pazifischen Auster (Crassostrea gigas), die sich seit einigen Jahren in der Nordsee ausbreitet und die hier heimische Europäische Auster (Ostrea edulis) zunehmend verdrängt.**
Nun ist es keineswegs so, dass der Austernfischer dafür bekannt ist, besonders viele Austern zu fressen. Da täuscht uns der Name. Denn dieser Watvogel frisst alles Mögliche. Und Austern – nach allem was ich höre und lese – offenbar eher selten. Andererseits ist er der einzige Watvogel, der das kann! Und weil das oft bestritten wurde, war ich absolut fasziniert, als ich ihn dabei beobachten konnte. Um meine Faszination zu erklären, muss ich allerdings etwas ausholen.
Der Speisezettel
Was ihren Speisezettel angeht, sind Austernfischer einerseits sehr flexibel und andererseits regional recht spezialisiert. Konkret bedeutet das¹
Manche von ihnen ernähren sich vor allem im Deichvorland und auf den saftigen Wiesen in Küstennähe. Sie fressen dort Regenwürmer und allerlei Insekten.
Andere bevorzugen bei der Nahrungssuche das mehr oder minder sandige Watt, wo sie hauptsächlich nach Wattwürmern (Arenicola marina, Nereis diversicolor) oder nach den eingegrabenen Herzmuscheln (Cerastoderma edulis) fahnden.
Und dann gibt es noch jene, die sich gerne den Muscheln auf Muschelbänken widmen. Das können Miesmuscheln (Mytilus edulis) sein oder eben auch Austern.
Darüber hinaus ist bekannt, dass sich Austernfischer den jahreszeitlichen Gegebenheiten anpassen und ihren Speiseplan entsprechend variieren. Ihr Schnabel macht es Austernfischern möglich, sowohl in weichem Substrat zu stochern als auch auf Muschelschalen zu hämmern. Er ermöglicht sogar, Krebse zu packen und auf Gestein zu zertrümmern …
Zurück zu meiner Beobachtung am Jadebusen, der bei Ebbe sehr viel Wasser verliert und ein typisches Sand-Schlick-Watt bildet. Hier trieben sich zunächst nur Lachmöwen herum, bevor der Austernfischer auftauchte und kurz darauf ein braungemusterter Steinwälzer.
Kurz ist der Schnabel des Steinwälzers, der oberflächlich nach Insekten, Würmern und Schnecken fahndet. Lang der Schnabel des Austernfischers, der ihn zum Stochern und gezielten Hämmern benutzt.
Austernfischer auf Nahrungssuche
Wenn der Austernfischer an der seeseitigen Böschung des Deiches, die aus Gestein und alten sowie jungen Austern besteht, auf Nahrungssuche ist, sieht das vom Gehweg etwa so aus: Sehr aufmerksam läuft er dort herum, scheint jede Bewegung wahrzunehmen und zu bewerten.
Auf der herben Unterlage kommen dem schwarz-weißen Watvogel – nicht umsonst wird er auch als Meer-, See- oder Strand-Elster bezeichnet – die kräftigen Füße und Beine zugute.² (Barfuß möchte ich dort nicht herumlaufen.)
Wirklich spannend zu sehen war, wie die „Meerelster“ ständig zwischen Gestein und Muscheln herumstocherte. Obwohl ich den Vogel meist nur seitlich und von hinten beobachten konnte, bemerkte ich hin und wieder, dass er eine besondere Beute fixierte. Intensiv wurde dann mit dem Schnabel gewerkelt, wie das folgende Video zeigt.
Und als er einmal dann den Kopf hob, hielt er seine bleiche Beute im Schnabel und verschluckte einen ansehnlichen Happen Muschelfleisch – definitiv von einer Auster.
Bisher hatte ich an der Nordseeküste nur gesehen, wie Austernfischer im Watt nach Muscheln fahnden, die sich eingegraben haben, und wie sie in Röhren lebende Wattwürmer aus dem Boden ziehen. Das war nun also eine Premiere für mich.
Kein Zufall
Ich habe einleitend geschrieben, dass die Ankunft des Austernfischers an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt kein Zufall war. Dazu noch folgende Anmerkungen:
Bei ablaufendem Wasser, wenn also das Watt trockenfällt, ziehen sich die Austernfischer und andere Watvögel³ auf Sandbänke und andere Erhöhung im Meer zurück. (Das können ebenfalls Muschelbänke sein.) Steigt die Flut, fliegen sie wieder ihre Nahrungsflächen an der Küste an.
Auch „mein“ Austernfischer war bei auflaufendem Wasser ans Ufer des Jadebusens gekommen. Denn während Austern bei Ebbe ihre beide Schalenhälften fest aufeinanderpressen und so der Austrocknung widerstehen, öffnen sie sich etwas, sobald das Wasser ansteigt und die Austern benetzt. Durch den Spalt zwischen den Schalen kann nun Wasser ein- und ausströmen. Nahrung wird herausgefiltert, Stoffwechselprodukte ins Meer gespült.
Das war gewissermaßen die Stunde „meines“ Austernfischers, der mit seinem schmalen, seitlich zusammengedrückten Schnabel durch diesen Spalt in die Muschel eindringen konnte.
Mit hämmernden Bewegungen können Austernfischer einen solchen Zugang erweitern oder die Schale durchlöchern, um an das Fleisch einer Muschel zu gelangen.
Dabei durchtrennen sie die beiden Muskeln, die die Schalenhälften zusammenhalten und zerren am Muschelkörper, damit er sich von der Schale löst.
Als im Jadebusen das Wasser immer höher stieg und die Muschelbänke überflutete, war „mein” Austernfischer im Wasser unterwegs. Hier sondierte er den Boden mit seinem Schnabel. An dessen Spitze befinden sich Tastorgane, mit denen der Vogel ebenfalls Beute aufspürt. So wird bei der Nahrungssuche die visuelle Wahrnehmung durch taktile – also den Tastsinn – ergänzt.
Diese kleine Fotoserie zeigt: Der Austernfischer stochert und fischt auch stehend im Wasser. Kleine Fische, die hier durchs Wasser flitzen, ostfriesische Krabben (Granat) und andere Krebstiere schmecken ihm nämlich auch.
Mit anderen Worten: Selbst wenn sich Austernfischer an der Nordsee vielfältig und hauptsächlich von Wattwürmern, Herz- und Miesmuscheln ernähren, werden manche ihrem Namen gerecht und verzehren das Fleisch von Austern. Das ist gewissermaßen ein Alleinstellungsmerkmal unter den Vögeln im Wattenmeer.
¹ Viele dieser und weitere Informationen sind im Handbuch der Vögel Mitteleuropas und im Handbook of the Birds of the World zu finden. Und jemand, der viel über das Leben des Austernfischers erforscht hat und oft zitiert wird ist Rolf Dircksen.
² Was wir sehen, das sind genaugenommen die Zehen und die Füße. Ihre Unter- und Oberschenkel sind im Federkleid verborgen.
³ Über den ungewissen Zusammenhang von Watt und Watvögeln haben ich bereits früher geschrieben.
* Der Jadebusen gehört zum FFH-Gebiet Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer, ist somit Weltnaturerbe und ein traditionell bedeutsames Vogelschutzgebiet, in dem eine Vielzahl von Vogelarten brütet und überwintert. Für ziehende Vögel ist es zudem ein überlebenswichtiger Rastplatz, an dem sie Energie auftanken.
** Das ist vor allem eine Folge der französischen Austernzucht, die mit dieser fleischigen und pflegeleichten Muschelart mehr Profit einfährt – eine Entscheidung, die von den Austernzüchtern an der deutschen und dänischen Nordsee längst kopiert wird.
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