Dies ist ein ungewöhnliches Buch über Vögel und das Vogelleben. Denn was hier erzählt wird, ist weder ein Plädoyer für sinnvollen Naturschutz, noch ein Wohlfühlbuch in Sachen Natur. Es ist auch kein Buch im Sinne von „Nature Writing” wie Krähen und keine Monografie wie Die Amsel. Was also ist das Buch?
Eine runde Sache, möchte ich sagen. Denn hier haben sich eine Wissenschaftsjournalistin und ein anerkannter Experte für Seeschwalben – genauer für Flussseeschwalben – zusammengetan, um über das Leben dieser Vogelart zu berichten. Anschaulich, unterhaltsam und datenbasiert.
Die Grundlage von Seeschwalbensommer ist ein Forschungsprojekt am Banter See in Wilhelmshaven, das vom dortigen Institut für Vogelforschung seit Jahrzehnten betreut wird.
Peter H. Becker, Gründer und langjähriger Leiter des Projekts, hat als Wissenschaftlicher Direktor i.R. des Instituts sozusagen den Stoff für das Buch geliefert. Und die Berliner Wissenschaftsjournalistin Bettina Sauer hat ihre Passion für Flussseeschwalben entwickelt, als sie 2016 erstmals als Ehrenamtliche am Banter See mitgeforscht hat. „Vogelferien“ nennt sie das.
Ihre Handschrift macht aus teils trockenen Daten ein Lesevergnügen und bietet en passant einen Einstiegskurs in Sachen Vogelleben und Vogelforschung.
Aus Daten werden Geschichten
Wir erfahren nicht nur, wie alt Flussseeschwalben werden können – Lotti erreichte 24 Jahre, Kirsi 25 Jahre, und beide lösten bei jeder Rückkehr aus dem westafrikanischen Winterquartier im Forscherteam gewaltigen Jubel aus – , sondern es geht auch darum, mit welchen Techniken an den angriffslustigen, rasanten Fliegern geforscht wird. Wie gelingt das individuelle Monitoring der Vögel, die nahe der Forschungsstation seit Jahrzehnten auf künstlichen Inseln in vorbereiteten Boxen brüten?
Bezifferte Vogelringe, Transponder, Geolokatoren und nicht zuletzt die ansehnliche Datenbank des Instituts helfen den Biologen und Biologinnen den Überblick zu behalten. Einige der Menschen, die die Technik instand halten, Daten erheben und die Arbeit koordinieren, stellt uns die Autorin auch vor.
Das alles liest sich locker. Die Ausführungen zur elektronischen Erfassung der Vögel, die seit 1992 angewendet wird, klingen beispielsweise so, Seite 23
Sobald eine Seeschwalbe auf einer der 44 Boxen landet, geht sie gewissermaßen virtuell in die Falle. Die Sitzflächen der Kisten sind von schwarzen Plastikrahmen umgeben, die es in sich haben: Sie bergen ausgefeilte Technik und dienen als Messantennen, die die einzelnen Vögel registrieren. Zusätzlich erhält die Hälfte der Boxen eine Waage, da das Gewicht Aufschluss über aktuelle Nahrungsversorgung und Kondition der ausspionierten Seeschwalben gibt.
Und weiter
Um ausgelesen werden zu können, brauchen die Tiere einen Mikrochip mit individuellem Code. Diesen gerade einmal reiskorngroßen sogenannten Transponder bekommen sämtliche fast flügge Küken behutsam unter die Haut an der Brust gespritzt … und sind auf dem Radar der Wissenschaft.
Faszination: Stoßtauchende Seeschwalben
Aber natürlich geht es nicht nur um Forschungstechniken. Im Fokus steht tatsächlich das Vogelleben, zum Beispiel im Kapitel Fressen und gefressen werden. Flussseeschwalben leben von kleinen Fischen, die sie für sich und den Nachwuchs erjagen, Seite 75
Ruhig segeln die Vögel einige Meter über dem glatten Wasser, weiße Silhouetten vor dem Knallblau des Himmels. Plötzlich kippt eine – den Schnabel voran, die Flügel nach hinten gelegt – senkrecht nach unten, schießt ins Meer hinein, taucht in Bruchteilen von Sekunden wieder auf … als sogenannte Stoßtaucher jagen Seeschwalben kopfüber im Sturzflug, mal in kleineren oder größeren Gruppen, mal allein, mal mit dem Partner als Teil der Balz: Romantik über den Wellen.
Und wenn die Jungen geschlüpft sind und heranwachsen, passen die Eltern das Futterangebot weitgehend den Bedürfnissen der kleinen Seeschwalben an.
Kleine Vogelkunde
Doch es sind nicht nur Themen wie Alter, Gewicht, Nahrung oder Flugrouten, über die wir viel in diesem Buch erfahren, sondern auch über das Liebesleben der Vögel. Flussseeschwalben gelten als weitgehend monogam, aber manche Verbindungen halten nicht lange, und manche Paare schaffen es nicht, Junge großzuziehen. Bettina Sauer stellt uns die möglichen Gründe vor, und sie vergleicht die Seeschwalben mit diversen anderen Vogelarten.¹ Das macht sie eigentlich bei jedem Thema, ob es nun um den Nestbau geht, das Gefieder, das Zugverhalten oder den Schlaf. Und darum ist das Buch auch eine kleine, und gute, Vogelkunde.
Selbst der Vogelgesang, der bei den Flussseeschwalben keine herausragende Rolle spielt, wird als Mittel der Kommunikation ausführlich behandelt – und schließlich die Frage, was ist angeboren, was erlernt und wie spielt beides zusammen.
Nehmen wir das Fliegen, das in dem Kapitel Flugstunden und Jagdübungen Thema ist. Mit etwa vier Wochen haben die Jungen die weichen Dunen verloren und besitzen feste Federn, aus ihren Stummelflügeln sind zudem längliche Schwingen geworden. Aber die rein körperlichen Voraussetzungen sind nicht alles. Auch die Motivation muss stimmen, und dann wird geübt, Seite 153
Als Allererstes beginnen die Kleinen instinktiv, am Boden der Brutinseln häufig und heftig mit den Flügeln zu schlagen. Bloß: Nichts passiert. So geht das mehrere Tage, bis die Flugmuskeln gekräftigt sind und all das Ackern die ersten bescheidenen Früchte trägt …
Wie die flatternden Flugversuche ausgehen und welche Risiken es gibt, möchte ich nicht verraten. Die Auflösung dieses Rätsels – und vieler anderer – findet sich in dem übrigens auch ansprechend illustrierten Buch.
Seeschwalbensommer
Autoren: Bettina Sauer, Peter H. Becker
Verlag: Franckh-Kosmos, Stuttgart
Jahr: 2021
¹Der Verlag hat ein Register aller erwähnten Vogelarten ermöglicht. Die zitierte Literatur findet sich hingegen nur online. Das ist schade. Aber für neugierige Leser und Leserinnen gibt es dort auch allerlei Grafiken zu entdecken. Das ist erfreulich.
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