Bei dem, was ich hier über junge Silbermöwen und ihre Eltern erzählen möchte, beziehe ich mich auf Verhaltensforscher wie Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen und auf Begriffe wie Schlüsselreiz und Elternkumpan. Die beiden Nobelpreisträger von 1973 haben ganz wesentliche Aspekte des Zusammenspiels von angeborenem und erlerntem Verhalten erforscht und – am Beispiel der Brutfürsorge von Vögeln – in bis heute lesenswerten Abhandlungen dargestellt. Ich habe in ihren Büchern erst kürzlich wieder „geschmökert”.¹ ²
Der heutzutage eher ungewöhnliche, eine innere Verbindung ausdrückende Begriff Kumpan gefällt mir, insbesondere wenn wir die Kumpanin hinzufügen – so wie es in der französischen Begriffsbildung neben le coupain auch la coupine gibt.
Ein Kumpan oder eine Kumpanin ist mehr als irgendein Tier aus derselben biologischen Verwandtschaft, sondern es ist ein Tier, zu dem eine besondere Beziehung besteht.
Konrad Lorenz spricht in seinen Texten zum Beispiel vom Elternkumpan, vom Kindkumpan und vom Geschlechtskumpan.
Der Begriff Elternkumpan flammte in dem Moment bei mir auf, als ich damit konfrontiert war, wie hungrige, nicht mehr ganz junge Silbermöwen ein Elternteil extrem unter Druck setzten, damit es zuvor verschlucktes Brot hochwürgt und ausspuckt. Und er oder sie – die äußerlichen Geschlechtsunterschiede sind minimal – ließ sich darauf ein.
So gab es hervorgewürgte Happen für den unersättlichen Nachwuchs, zu dem über viele Wochen eine besondere Beziehung besteht. Aber der Reihe nach.
Junge Silbermöwen sind unersättlich
Ich wollte in Wilhelmshaven über die Strandpromenade zu den Fluss-Seeschwalben am Banter See, als mir eine Frau auffiel, die einige Silbermöwen mit Brot fütterte.
(Davon ist dringend abzuraten, denn die Möwen gewöhnen sich daran und stressen – große und bevorzugt kleine – Menschen, die ein Fischbrötchen oder sonst etwas verzehren.)
Die Dame war bereits weitergegangen, als ich zu den Möwen kam. Aber die Geschichte war noch nicht zu Ende: Eine dieser so hübschen Silbermöwen wurde von drei jungen Artgenossen beständig verfolgt – von ihrem Nachwuchs im bräunlichen Federkleid.
Diese drei Möwenkinder wussten aus wochenlanger Erfahrung, dass es Futter gibt, wenn sie die Eltern anbetteln. Und sie wussten, dass es besonders viel bringt, wenn sie mit ihrem Schnabel gegen den Schnabel des Altvogels picken. (Eine Grafik dazu habe ich in diesen Blogbeitrag eingefügt.)
Angeborene Schemata als Schlüsselreiz
Und da sind wir bei den grandiosen Verhaltensbiologen – auch Tierpsychologen oder Ethologen genannt – des 20. Jahrhunderts, also bei dem teils umstrittenen Konrad Lorenz und bei Nikolaas Tinbergen. Sie haben beobachtet und mit schlauen Versuchen erkundet, woran etwa Jungvögel ihre Eltern erkennen und diese ihren Nachwuchs.
⇒ Welche Signale sind bei Interaktionen wirksam und was führt zum Beispiel dazu, dass (nur) der eigene Nachwuchs gefüttert wird?
⇒ Wie entwickeln sich aus angeborenen Vorstellungen („Schemata“) seitens der Kinder durch Lernvorgänge zunehmend differenziertere Vorstellungen von den Eltern?
⇒ In welcher Weise ist bei der Brutfürsorge auch das Verhalten der Vogeleltern durch angeborene Schemata bestimmt?
Dazu einige Beispiele:
Junge Sperlingsvögel sind anfangs blind und wenig mobil. Sie machen den Schnabel auf, wenn sie Erschütterungen am Nest spüren. Etwas ältere Sperlingskinder bemerken, dass sich der Nesteingang verdunkelt, hören oder erkennen den anfliegenden Altvogel. Und wenn sie ihren oft farblich auffälligen Sperrrachen aufreißen, wird prompt vom Elternkumpan die mitgebrachte Insektennahrung hineinmanövriert.
Während bei Sperlingen und anderen Nesthockern das gut getimte Aufsperren des Schnabels die Versorgung sichert, sind Nestflüchter von Beginn an agiler und picken selbst nach Futter. Den frisch geschlüpften Hühnerküken wird bekanntlich Fressbares von der scharrenden Henne nur angezeigt. Während für junge Silbermöwen, die man auch als Platzhocker bezeichnet, bereits verschluckte Nahrung vom Elternkumpan hochgewürgt und ausgespuckt wird.
Heranwachsende Silbermöwen animieren ihre Eltern zunehmend heftiger zur Futterabgabe, indem sie gegen den gelben Schnabel und speziell auf den roten Punkt picken. Diese farblich markante Reizkonstellation entspricht einem angeborenen Schema, das die Jungen als wichtig erkennen. Es handelt sich wie auch beim Sperrrachen, der die Futterübergabe seitens der Eltern auslöst, um einen Schlüsselreiz. Bei der Silbermöwe triggert der Schlüsselreiz das zielgerichtete Picken gegen den Schnabel, und das wiederum führt dazu, dass der Elternkumpan Nahrung hochwürgt.
Fürsorglich kontra egoistisch
Damit Elternvögel sich fürsorglich verhalten statt egoistisch (also etwa Gefressenes bei sich behalten), bedarf es solch eindeutiger Signale oder Verhaltensweisen der Jungvögel. Sind diese im Erbgut – also genetisch – verankert, sichert das die Versorgungslage.
Das gilt auch für den Elternkumpan beziehungsweise die Elternkumpanin, die beide den Möwennachwuchs füttern. Dem bettelnden Picken können Silbermöweneltern nicht widerstehen und spucken irgendwann das aus, was sie schon verschluckt hatten. Eine solche Szene konnte ich beobachten und fotografisch festhalten.
Zunächst verfolgen die Möwenkinder den Altvogel und drängen sich an ihn. Denn sie waren dabei, als dieser mit Brot gefüttert wurde und wissen, dass er noch etwas zu bieten hat. Die jungen Silbermöwen recken immer wieder den Hals und stoßen mit ihrem Schnabel gegen den Schnabel des Altvogels. Der würgt und liefert …
Dazu Fotos und drei Videoschnipsel aus einer längeren Sequenz: Verfolgen und Betteln seitens der Jungen, Bedrängen des Elternkumpans und Würgen, Jungvögel registrieren, dass nichts mehr zu holen ist.
Verfolgen und Betteln
Bedrängen und Würgen des Elternkumpans
Der Elternkumpan kann irgendwann nicht anders, als die verschlungene Brotnahrung auszuspucken. Für immer hungrige junge Silbermöwen ist das tatsächlich „ein gefundenes Fressen”.
Alle drei Jungvögel stürzen sich auf die Brotkrumen, bis trotz Betteln und „Schimpfen” der Vorrat erschöpft ist.
Nichts mehr zu holen
Mit Wasser nachspülen
Erbrechen von Nahrung ist als Fütterungsstrategie von verschiedenen Meeresvögeln bekannt, die von ihren Ausflügen aufs Meer zum Beispiel Fisch oder Kopffüßer mitbringen. Die teils angedaute Nahrung wird bei den Jungen abgeladen und von ihnen rasch verschlungen.
Die drei Silbermöwengeschwister hatten bald alles aufgefressen. Danach stand die Bande etwas „verdattert“ auf dem Strand.
Die Jungen realisierten sofort, dass hier nichts mehr zu holen war – noch bevor der Elternkumpan wegflog. Sie merkten aber auch, dass nach der trockenen Kost ein Schluck Wasser guttäte. Ihr Weg führte sie daher ins Wasser, wo sie mehr als einen Schluck tranken.
¹ Konrad Lorenz, Der Kumpan in der Umwelt des Vogels (1935) in: Über tierisches und menschliches Verhalten, Bd. 1, München 1965, Piper, S. 115ff
² Nikolaas Tinbergen, Instinktlehre. Vergleichende Erforschung angeborenen Verhaltens, 1972, Berlin und Hamburg (Parey)
³ Genau dieses elterliche Fürsorgeverhalten nutzt der Kuckuck aus: Er hat einen überdimensionalen Sperrrachen, dessen Größe und intensive Färbung wirkungsvoller ist als der arteigene. Daher wird er von den parasitierten Wirtsvögel, die wie etwa Drosselrohrsänger viel kleiner sind, tagein tagaus gefüttert.
* Ich möchte an dieser Stelle folgendes betonen: Das Gegensatzpaar angeboren – erlernt bzw. ererbt – erworben ist aus Sicht der Verhaltensbiologie vor allem ein begriffliches Konstrukt und kein Entweder-Oder. Es handelt sich um zwei Endpunkte auf einer Skala mit unzähligen Zwischenstufen. Wer Verhalten beobachtet und erforscht wird erkennen, dass beides je nach Tierart auf unterschiedlichste Weise verschränkt ist.
Silbermöwe | Goéland argenté | Herring Gull | Larus argentatus
Toller Beitrag, wieder viel gelernt, herzlichen Dank! P.S.: „gmx“ hat Ihre E-mail heute erstmals im Spam-Ordner bei mir einsortiert und beim Versuch, direkt zum Beitrag zu kommen, die Weiterleitung wegen Sicherheitsbedenken verweigert.
Danke für die Rückmeldung und den gmx-Hinweis. Bei mir hat gmx nicht gemeckert. Viele Grüße!