Nah dabei zu sein, wenn sich junge Fluss-Seeschwalben – auf schwankenden Bojen balancierend – von ihren Eltern füttern lassen, ist einfach umwerfend. Ich hatte kürzlich diese unerwartete Gelegenheit am Südstrand von Wilhelmshaven und möchte davon berichten. Es ist zugleich ein Blogpost, der sieben Jahre „Flügelschlag und Leisetreter” markiert. Mitte September 2016 ging es nach etwas Vorgeplänkel richtig los. Und darum geht es nun dieses Mal:
In den Sommermonaten können wir in Wilhelmshaven den eleganten Seeschwalben beim Erjagen von Fischchen zuschauen – ganz bequem von der Promenade aus.
Und wenn der Nachwuchs alt genug ist und wie dieses Vogelkind auf einer Boje Platz nimmt, lassen sich bei auflaufendem Wasser, also bei Flut, auch die Fütterungen gut beobachten. Am besten mit einem ordentlichen Fernglas.
Mit der Flut kommt der Fisch
Die Fluss-Seeschwalben, die hier unterwegs sind, kommen hauptsächlich von der Brutkolonie am Banter See, wo die Vögel in einem großartigen und weltweit einmaligen Projekt seit Jahrzehnten wissenschaftlich – ich möchte mal sagen – betreut werden. Aber dazu später.
Am Rand des Jadebusens, der zum Wattenmeer an der Küste Ostfrieslands gehört, lassen die Vögel sich blicken, sobald das Meer wieder heranflutet und genügend Wasser den Wattboden bedeckt. Bei Ebbe liegen die Bojen auf dem Strand, Menschen laufen hier herum und die Silbermöwen suchen Fressbares. Nun aber schwimmen die Bojen und markieren die Badezone.
Zuverlässig lassen sich dann die eleganten Flieger, die stoßtauchend ihre Nahrung erbeuten, über dem Wasser blicken. Häufig fliegen sie parallel zur Strandpromenade, den Kopf nach unten geneigt, auf der Suche nach kleinen Fischen, nach allerlei Larven oder auch Krabben, die mit der Flut landwärts getrieben werden.
Hat eine Fluss-Seeschwalbe etwas Passendes entdeckt, dann stürzt sie sich entweder ohne zu zögern kopfüber ins Meer oder sie steht rüttelnd in der Luft – ganz wie ein Turmfalke über dem Acker, einer Weidefläche oder in Berlin über dem Tempelhofer Feld. Auf diese Weise nehmen die Vögel, bevor sie aus der Waagerechten abkippen und unvermittelt herabstoßen, potenzielle Beute ins Visier.
Rütteln im Wind – und Abflug.
Nicht jedes Mal sind die schwarz-weißen Stoßtaucher erfolgreich. Aber wenn, dann tragen Fluss-Seeschwalben-Eltern einen kleinen Fisch im Schnabel und fliegen damit schnurstracks zu den wartenden Jungvögeln. Die sitzen entweder in einem der Nester am Banter See oder in der näheren Umgebung. Einige warten jedoch auf den schwankenden Bojen, putzen sich etwas gelangweilt, verlieren auch mal die Balance oder machen lautstark auf sich aufmerksam.
Junge Fluss-Seeschwalben sattmachen
Die Übergabe der Fischchen von ALT auf JUNG ist ein schneller Akt. Logisch, denn seit Wochen sind Vater-Mutter-Kind ein eingespieltes Team. Wer hier auf der Boje steht und angesichts der Eltern nach Nahrung schreit, ist auf jeden Fall mehr als vier Wochen alt. Erst zu dieser Zeit werden die Jungen flügge – verlassen also das ziemlich schlichte Bodennest. Sie sind dann fast so groß wie die Eltern und mit rund 130 Gramm ebenso schwer.
Anfangs werden die Jungen mit winzigen Larven gefüttert, nach und nach wird das Angebot mächtiger. Unermüdlich stopfen die Eltern kleine Fische in den Sperrrachen. Fordernd und mit weit aufgesperrtem Schnabel recken die Seeschwalbenkinder den Kopf hoch. Der Altvogel fliegt an, stopft das „Mäulchen” und schon ist er oder sie in Windeseile wieder auf und davon.
Abendliche Fütterung: 22.23 Uhr
Am Wilhelmshavener Institut für Vogelforschung „Vogelwarte Helgoland“ (IfV), das die Brutkolonie am Banter See wissenschaftlich betreut, wurde ermittelt, welche Fischarten die Fluss-Seeschwalben am Jadebusen erwischen. Es sind hauptsächlich noch sehr kleine Heringe und Stinte, die Küken von Fluss-Seeschwalben sattmachen. Einiges deutet darauf hin, dass der Fischreichtum im Wattenmeer sinkt.
Und weniger Fisch im Meerwasser, das bedeutet schlichtweg: Es dauert länger, Nahrung zu entdecken, zu erbeuten und also sich selbst oder die Jungen satt zu bekommen. Viel Energie wird zudem verschwendet und steht nicht mehr zur Verfügung, wenn der weite Flug ins afrikanische Winterquartier ansteht.
Zusätzliche Dramen gibt es leider auch noch: Schon länger leiden Fluss-Seeschwalben unter der Quecksilberbelastung ihrer Beutefische in der Nordsee. (Andreas Dänhardt u.a.: Nahrungsbeziehungen zwischen Flussseeschwalben und Fischen an der Jade, Niedersächsisches Wattenmeer Bd. 16, 2018). Und sowohl 2022 als auch 2023 hat zudem die Vogelgrippe zugeschlagen: Der Bestand der Brutkolonie ist dadurch geradezu bedrohlich eingebrochen.
Intensiv beforscht
Es war die Idee von Peter H. Becker, das Brutgeschäft der Fluss-Seeschwalben am Banter See¹ umfassend zu erforschen. Seither werden die Vögel beringt und beobachtet. Sie nisten hier auf einem künstlichen Floß. Es ist kiesbedeckt und in sechs Kompartimente eingeteilt. In jedem davon können bis zu 150 Paare brüten. Diese Seeschwalbenart mag es eng!
Seit 1992 bekommen die Jungen ab einem Alter von drei Tagen einen reiskorngroßen Chip unter die Haut geschoben. Das ist ein tolles Ding, finde ich.
Als Transponder überträgt dieser Mikrochip nämlich individuelle Daten der Vögel an dunkle Boxen, und damit an die Forschenden des IfV.
Diese sind nach wie vor von dem kommunikativen Austausch zwischen Mikrochip und Box begeistert.
Die innen verbaute Technik registriert, welches Individuum sich gerade niedergelassen hat. Wer also die Kolonie bevölkert. Und gewogen werden die Vögel bei jeder Landung auch.
Die Boxen sind hauptsächlich an der Außenkante der Kompartimente angebracht und werden – wie die Bojen auf dem Meer – als Lande- und Ruheplatz von den Seeschwalben gerne genutzt. Als Sitzkästen werden sie passenderweise auch bezeichnet.
Entstehen auf der Plattform neue Gelege, markieren die Biologen und Biologinnen vom IfV diese mit einer nummerierten Holzlatte. So lässt sich jedes mit dem Fernglas vom Beobachtungsstand aus identifizieren.
Wie die Kommunikation zwischen Chip und Box funktioniert, konnte ich mir bei einem Treffen mit Sandra Bouwhuis, aus der Nähe anschauen. Sie hat als Nachfolgerin von Peter H. Becker die wissenschaftliche Leitung des Projekts übernommen. Das Prinzip der Technik ist leicht erklärt: Die Box fragt gewissermaßen alle 5 Sekunden: „Ist da wer?“ Und das „Reiskorn” antwortet darauf in etwa so: „Hier ist Fluss-Seeschwalbe 0026846C”.
Diese Daten werden online erfasst und verarbeitet, so dass das Forschungsteam auch später weiß, welcher Vogel zu welchem Zeitpunkt mit welcher Box Kontakt hatte und also in der Brutkolonie war.
Sichtbar sind die Infos auch auf dem PC in der schlichten Beobachtungshütte, die zugleich einen Blick auf die Brutkolonie bietet.
Seit 2017 trägt ein Teil der Fluss-Seeschwalben vom Banter See zusätzlich einen kleinen Geolokator am Fuß. Der sammelt über Wochen und Monate Daten, die nachträglich ausgelesen werden können. Er verrät unter anderem, in welcher Region ein Vogel sich beim Flug ins afrikanische Winterquartier aufgehalten hat und wie zügig er auf dem Hin- und Rückweg unterwegs war. Die Sicherheit der Vögel hat für die Forschenden vom IfV Priorität. Daher war zunächst 2016 mit weinigen Individuen getestet worden, wie gut sie mit dem 1-Gramm leichten Geolokator abtauchen und Beute erwischen können. – Problemlos!
Die Biologinnen und Biologen erfuhren durch ihre technischen Möglichkeiten nach und nach, wo die Vögel in der west- oder südwestlichen Küstenregion Afrikas überwintern, dass sie alljährlich – wenn nichts dazwischenkommt – in ihr Brutgebiet zurückkehren und meist mit demselben Partner beziehungsseise derselben Partnerin für Nachwuchs sorgen.
Zusätzlich verraten ihre wertvollen Langzeitdaten zum Beispiel
Wie lange Fluss-Seeschwalben leben, denn wer nie wieder kommt gilt als tot: Die weiblichen Vögel Lotti und Kirsi wurden mit 24 und 27 Jahren besonders alt.
Wer sich mit wem verpaart und wie hoch der Fortpflanzungserfolg ist: Manche der Seeschwalbendamen haben viel Nachwuchs, etwa die legendäre Lotti (Ringnummer 7718502, Transpondercode 0026846C) mit 38 flüggen Jungen, 99 Enkeln und zahlreichen Urenkeln. Andere haben nur einige wenige Nachkommen.
Wie sich neue Belastungen im Wattenmeer auf den Bruterfolg auswirken: Der Fischbestand nimmt ab. Die Quecksilberbelastung bleibt hoch und könnte den Bruterfolg schmälern.
Bisher ist das Projekt eine unglaubliche Erfolgstory. Das lässt sich in Seeschwalben-Sommer nachlesen. Anschauungsmaterial bietet neuerdings eine informationsreiche, wunderbaren Ausstellung – noch dazu mit Blick auf die Brutplattform im Banter See.³
Dunkle Wolken
Zuletzt hat die Vogelgrippe dunkle Wolken herangeweht: Fast überall an Nord- und Ostsee verendeten Seeschwalben: Fluss-Seeschwalben, Brand-Seeschwalben und Küsten-Seeschwalben. In den Niederlanden, in Deutschland, in Großbritannien …
Am Banter See starb 2022 etwa ein Viertel (26%) der registrierten 1173 Altvögel. Auch viele Jungvögel verendeten. Es überlebten gerademal 1153. Während 2020 in der Kolonie 1016 Jungvögel flügge wurden! Und leider war es 2023 nicht besser. Sandra Bouwhuis berichtete mir:
Noch im Juni sah es gut aus. Viele der aus Afrika zurückgekehrten 670 Vögel brüteten, und ihre Jungen schlüpften. Aber dann breitete sich erneut das Vogelgrippevirus aus. Am 21. Juni wurde die erste tote Seeschwalbe bei uns entdeckt. Die letzte am 28. Juli. Selbst Jungvögel, die zunächst überlebte hatten, starben, wenn die Eltern infiziert waren und den Nachwuchs nicht mehr versorgen konnten.
Die Brutsaison 2023 überlebten gerademal 50 Jungvögel. Einige davon begegneten mir im August am Südstrand von Wilhelmshaven. Für sie und jene, die sich Ende August schon Richtung Afrika auf den Weg gemacht hatten, bleibt zu hoffen, dass sie die kraftraubende, weite Strecke überstehen. Und dass, wenn sie nächstes Jahr zurückkehren, das Grippevirus ihnen nichts oder nur wenig anhaben kann. Weil
⇒ sie die Infektion einmal überstanden haben und das Immunsystem nun vorbereitet ist,
⇒ das Virus in eine weniger gefährliche Richtung mutiert hat oder
⇒ die Fluss-Seeschwalben mit Medikamenten oder per Impfung geschützt werden können.
Was nun? Was tun?
Einen wirksamen Impfschutz und Medikamente wünscht sich Sandra Bouwhuis. Denn die einmalige Forschung mit individuellen Lebensverläufen ist in Gefahr. Ihr Punkt:
Wir haben im Jahr 2022 leider 327 Vögel verloren und 2023 nochmals 74 Vögel, von denen wir bereits so viel wussten.
Sie und ihr Team mussten in diesen beiden Jahren viele tote Vögel rund um den Banter See aufsammeln. Sie erhielten dabei sogar Unterstützung aus der Wilhelmshavener Bevölkerung und von Sommergästen. Das Entsetzen war allseits groß.
Nun werten die IfV-Wissenschftler und -Wissenschaftlereinnen die Blutproben der Seeschwalben aus, die routinemäßig von jedem Vogel genommen werden. Vielleicht verrät der Antikörpertiter etwas über eine mögliche Resistenzbildung. Außerdem wird die Forschungsgruppe beantragen, dass zu wissenschaftlichen Zwecken ihr wertvoller Bestand an Fluss-Seeschwalben per Impfung geschützt und medikamentös behandelt werden darf.***
Damit wir die eleganten, langlebigen Stoßtaucher weiter bei Wilhelmshaven und anderswo beobachten können, müssen sie heil in ihr Brutgebiet zurückfinden und von aggressiven Formen der Vogelgrippe verschont bleiben.
Von Badegästen lassen sich die Wilhelmshavener Fluss-Seeschwalben nicht so leicht beim Fischfang stören. Oder war diese Eine doch etwas perplex und erleichtert sich deshalb?
¹ Der Banter See hat eine lange Geschichte. Er liegt etwas landeinwärts hinter dem Uferbereich des Jadebusens.
² Bislang sind Impfungen gegen die Vogelgrippe in der EU verboten. Doch es macht eben einen Unterschied – und bringt neue Erkenntnisse –, ob eine seit Jahrzehnten gewachsene und wissenschaftlich intensiv begleitete Population geimpft wird oder ob die Millionenbestände von eierlegendem beziehungsweise fleischlieferndem Geflügel eine Impfung erhalten. Diese verschleiert unter anderem die Verbreitung des Virus. Und den industriellen Halter entschädigt der Staat für das gekeulte Geflügel.
³ Das Design der Ausstellung haben Uwe Franzen und Maria Röbbelen entworfen, mit fachlicher Beratung von Sandra Bouwhuis. Finanziert wurde die Ausstellung von Deutsche Stiftung Umwelt und NBank. Öffnungszeiten und Führungen sind im Besucherzentrum Wattenmeer zu erfahren.
*** Vieles spricht dafür, dass ein besonders hohes Gefährdungspotenzial von Vogelgrippeviren nicht auf infizierte Wildvogelpopulationen zurückgeht, sondern auf die Massentierhaltung: Dicht gedrängt stehen dort die Tiere beieinander, übertragen die Viren an ihre Nachbarn und lassen ständig neue Virusmutanten entstehen. Diese werden leicht und unbemerkt mit Tiertransporten in die Welt und hinaus zu den Wildvögeln getragen.
Das passiert, bevor eine infizierte Geflügel-Population gekeult ist.
„Draußen in der Natur“ bricht eine kranke Population von Wildtieren rasch zusammen, und in der Regel überleben nur Vögel, denen das Virus nichts anhaben konnte.
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