Der grauköpfige Ortolan ist mit seinen hellgelben Augenringen und seinem feinen „Bart” oder Kehlstreifen für mich ein bezaubernder Vogel, trotz eines ansonsten eher schlichten Federkleids.
Er gehört wie etwa die Goldammer und die Grauammer biologisch in die Familie der Ammern – oder Emberizidae in der wissenschaftlichen Nomenklatur. Gartenammer wurde er früher auch oft genannt.*
Wenig attraktiv ist die Rückseite des Ortolans. Aber ein solches Gefieder macht den kleinen Vogel unauffällig für Greifvögel und andere Feinde. Es bietet mit seinen Brauntönen eine perfekte Tarnung.
Angeblich eine Delikatesse
Dieses Mal muss ich mit der Tür ins Haus fallen: Der Ortolan ist in Westeuropa eine extrem bedrohte Vogelart. Denn hier ist ihm – wie auch anderen Vögeln der Wiesen und Felder – durch Habitatzerstörung die Lebensgrundlage weitgehend verloren gegangen.
Doch nicht nur in der sogenannten Offenlandschaft, sondern auch in den Weinanbaugebieten, in denen er früher häufig zu sehen war, ist er als Folge der zunehmend industriellen Bearbeitungsmethoden verschwunden.¹ ²
Außerdem: Für manche Menschen ist der Ortolan ein unverzichtbarer Leckerbissen und gehört auf die Speisekarte beziehungsweise ins Kochbuch. Vor allem in Frankreich gelten diese Vögel als Delikatesse und wurden speziell in Südwestfrankreich zwischen Atlantik und Pyrenäen zu tausenden gefangen, in Käfigen gemästet, z.B. in Armagnac ertränkt und verzehrt.¹
Als Studentin, in den 1970er Jahren in Frankreich, habe ich mir das Kochbuch La Cuisine familiale (Ed. De Montsouris) gekauft. Mir ging es damals um die Zubereitung des bretonischen Flan. Und was finde ich heute darin? Ortolan-Rezepte! Man soll die Vögelchen zum Beispiel am Spieß grillen … Der erste Satz unter dem Eintrag lautet übrigens übersetzt:
Der delikateste der kleinen Vögel; Zugvogel, von Mai bis Oktober, im Midi.**
Wer im Internet recherchiert, der findet noch heute diverse Rezepte zur Zubereitung dieser hübschen und wunderbar singenden Ammer.
Dabei ist das Fangen und brutale Mästen des Singvogels illegal. Bereits vor 40 Jahren wurde die Art in der EU-Vogelschutzrichtlinie unter Schutz gestellt. Aber geändert hatte sich zunächst nichts. Wegen Nichteinhaltung der Richtlinie hat der Europäische Gerichtshof Frankreich 2016 sogar verklagt.²
Dass deutsche und französische Vogelschutzorganisationen (CABS und LPO) den Fang der kleinen Ammern jahrzehntelang gestört und durch spektakuläre Befreiungsaktionen auf das Problem hingewiesen haben, hat letztlich Wirkung gezeigt: Ein engagierter französischer Umweltminister ist 2017 dem illegalen Treiben in Südfrankreich konsequent entgegengetreten, so dass die Vogelschutzorganisationen nur noch sehr wenige Vogelfanganlagen beobachten, berichtet Thomas Krumenacker.³
Die Rolle Frankreichs
Der Ortolan hat grundsätzlich ein großes Verbreitungsgebiet, das sich von der Iberischen Halbinsel bis weit über Osteuropa und den Ural bis nach Zentralasien erstreckt. Die Vögel mögen es trocken und warm, ernähren sich vorwiegend von Sämereien.
In Deutschland sind Ortolane insgesamt selten, etwa 7.000 Brutpaare könnte es noch geben. Die meisten südöstlich von Hamburg im nordostdeutschen Tiefland. Viele der Individuen, die bei uns oder in Polen brüten, fliegen im Spätsommer über Frankreich und Spanien, dann westlich der Sahara nach Westafrika.
Dabei riskierten sie bislang in französischen Kochtöpfen zu landen. Denn unter den rund 30.000 Ortolanen, die früher alljährlich in Frankreich gefangen wurden, waren eben nicht nur französische Brutvögel, sondern viele westeuropäische Zugvögel. Erbgutanalysen haben das bewiesen.³
Der Ortolan in Armenien
Als mir erstmals ein Ortolan begegnete, war ich in der Tat wie verzaubert. Gerade deshalb, weil der kleine Vogel auf den ersten Blick so unauffällig ist. Schaut man durch das Fernglas, dann imponiert er mit seinen hellen Augenringen, der zarten Kehlzeichnung – sie gleicht einem feinen Bart – und seiner zimtfarbenen bis rostroten Brust. (Alle Fotos lassen sich durch Anklicken am PC oder durch Ziehen vergrößern. Hier lohnt es sich besonders.)
Es war ein wenig Zufall, dass am armenischen Berg Aragaz, der bis zu 4080 m ansteigt, uns Vogelbegeisterten aus Deutschland die kleinen Ammern auf einer Birdingtour begegneten. Andererseits: Die Ortolan-Population ist in dieser Region vergleichsweise groß und auf ihrem Zug überfliegen diese Vögel nicht Frankreich, sondern nehmen auf dem Weg in ihr ostafrikanisches Winterquartier – und von dort zurück – eine östliche Route.
Die offene Landschaft am Aragaz – gegenüber liegt der türkische Ararat – ist Durchzugs- und Brutgebiet des Ortolans. Dort finden sie verschiedene Sämereien, aber auch zahlreiche Insekten, vor allem Heuschrecken und Käfer, daneben Schmetterlingsraupen und Ameisen. Vor allem der Nachwuchs braucht anfangs animalische Kost.
Wie zum Abschied
Ortolane halten sich zur Futtersuche viel am Boden auf. Dort werden sie in Frankreich auch per Netz gefangen. Aber hin und wieder sehen wir sie in hohem Buschwerk oder Bäumen. Manchmal sitzen sie dort so frei und ungeschützt, dass es für ornithologisch Interessierte eine Freude ist. Denn der Ortolan gilt als scheu.
Auf dem Gipfel des Aragaz begegnete mir am selben Tag übrigens die Alpenbraunelle – in Schnee und Eis. Und wer sich für die Ammern interessiert: Goldammer, Grauammer und Kappenammer hatten in Flügelschlag und Leisetreter schon ihren Auftritt.
* Das spiegelt sich in dem wissenschaftlichen Artnamen wieder: Emberiza hortulana. Denn das lateinisch Wort hortus bezeichnet den Garten. Es ist auch die Wurzel von „Ortolan“.
Das Wort Emberiza dürfte hingegen eine Ableitung aus dem Deutschen sein, denn regional heißt die Ammer auch Emberitz oder Emberitza. Das lese ich bei Viktor Wember in seinem Buch Die Namen der Vögel.
** Darüber steht ein Eintrag zur Amsel (= Merle), darunter zum Rebhuhn (= Perdrix).
¹ https://www.komitee.de/de/projekte/frankreich/vogelfang-in-frankreich/ortolanfang-am-fuss-der-pyrenaeen/
² Urs N. Glutz von Boltzheim u.a. (Hrsg.) Handbuch der Vögel Mitteleuropas, Vogelzug-Verlag, CD-Rom, Bd. 14 III, S. 1565 ff
³ https://www.riffreporter.de/de/umwelt/flugbegleiter-ortolan-krumenacker
Ortolan = Gartenammer | Bruant ortolan | Ortolan Bunting | Emberiza hortulana
Auch im Deutschland des 18./19. Jahrhunderts scheint der Ortolan als Delikatesse angesehen worden zu sein. So schreibt Heinrich von Kleist in Amphitryon:
„Jetzt ward das Abendessen aufgetragen,
Doch weder du noch ich beschäftigten
Uns mit dem Ortolan, der vor uns stand,
Noch mit der Flasche viel, du sagtest scherzend,
Daß du von meiner Liebe Nektar lebtest,
Du seist ein Gott, und was die Lust dir sonst,
Die ausgelaßne, in den Mund dir legte.“