Welch ungewöhnliche und doch schlichte Frage hat Cord Riechelmann mit dem Buchtitel Wo sind die Vögel nachts? aufgeworfen! Schlafen sie eigentlich, sofern sie nicht nachtaktiv sind wie die Mehrzahl der Eulen? Oder dösen sie nur? Wie lang ist ihre Nacht überhaupt? Und wie sieht die Nachtruhe aus, wenn man das Federbett bereits am Körper trägt und sich nicht zum Schlafen hinlegt?
In einem schmucken Heft aus dem Augsburger MaroVerlag führt uns der Autor das Nachtleben wohlbekannter Vogelarten unterhaltsam vor, während die Grafikerin Ulrike Steinke uns faszinierende Einblicke in die Dunkelheit gewährt. Schwarz sind die Vögel ihrer Papierschnitte, nur als Silhouette erfasst. Sie stehen, fliegen oder hocken vor einem farbenprächtigen Hintergrund.
Zu entdecken sind da Haustaube und Buntspecht, Rauchschwalbe und Haubenlerche, Amsel und Waldohreule, Greifvögel, Reiher, Enten und einiges mehr.
All diese Vogelarten kommen in dem kleinen Kunstwerk mit seinen gerademal 30 Seiten früher oder später zu Wort. Der Verlag präsentiert es mit dem Untertitel „Ein lauschendes Heft“, was sofort Neugier weckt. Und Cord Riechelmann ist als studierter Biologe, Philosoph und Autor geradezu prädestiniert dazu, nach der geheimnisvollen Nachtruhe beziehungsweise Nachtunruhe der Vögel zu fragen.
War es die Nachtigall?
Vielleicht war es die Nachtigall, die dem Berliner Autor das Thema eingegeben hat. Sie singt tagsüber und sogar nachts, aber zu sehen ist sie auch in Berlin – einem Hotspot für Nachtigallen – selten. Riechelmann bekennt, Seite 4
Gesehen habe ich die Vögel in all den Jahren nur selten. Schlafend mit geschlossenen Augen oder auch nur mit eingezogenem Hals auf einem Ast sitzend, nie. Und das ist der Regelfall für fast alle Vögel in der Nacht, selbst die, die ihre Aktivität in die Dunkelheit verlegt haben: Man sieht sie nicht.
Jene Vögel, die in der Nacht jagen, haben dasselbe Problem: Sie sehen Sperlinge und andere Arten, die in ihr Beuteschema passen, nicht oder nicht gut. Aber sie hören sie, wissen sie aufzuschrecken und zu packen. Auch darum verbringen kleinere Vogelarten die Nacht in einer Baumhöhle, einer Mauernische oder Felsspalte. Dies liegt jedenfalls nicht daran, dass es auf einem Zweig wackeliger ist oder die festgekrallten Zehen verkrampfen.
Cord Riechelmann erklärt en passant, warum der Griff der Zehen um den Zweig den Vogel in seiner Position automatisch fixiert ist. Ohne Muskelkraft und ohne Absturzrisiko.
Selbstverständlich liefert der Autor keine umformulierten Wikipedia-Einträge, sondern wandert assoziativ und frei von festen Kapiteln von Art zu Art. So führt er uns irgendwann zu den Mauerseglern und anderen Vögeln, die Tag und Nacht fliegen, also offenbar nie zur Ruhe kommen. Wie und wo schlafen sie? Was weiß die Forschung über den Sekundenschlaf von Vögeln, etwa von Zügelpinguinen? Und bei welchen Arten ist belegt, dass sie eine Gehirnhälfte abschalten können – sie quasi schlafen legen –, während sie mit Hilfe der anderen elegant durch die Luft segeln?
Oder waren es die Krähen?
Einige Vogelarten verbringen die Nacht in einer großen Schlafgruppe. Manche im Schilf, andere auf einem Feld oder auf dem Meer in einiger Entfernung zur Küste. In solchen Gruppen ist der Job des Wachens – und des Wachseins – unter den Individuen aufgeteilt. Dadurch kann einer die anderen bei Gefahr warnen. Nicht alle müssen ständig auf der Hut sein. Außerdem dienen große Schlafgemeinschaften, wie man sie von Staren und Krähen kennt, als Informationszentren. Dazu hat Riechelmann einiges zu sagen, nicht umsonst hat er mit Krähen einen Bestseller verfasst, der nicht nur ein biologisch interessiertes Publikum anspricht.
Womöglich waren es also gar nicht die Nachtigallen, die ihn fragen ließen, was die Vögel nachts so treiben, sondern die allabendlich lärmenden Berliner Krähen in ihren Schlafbäumen. Oder hat ihn vielleicht die Zugunruhe von Vögeln, die in ihre fernen Winterquartiere ziehen wollen, nicht ruhen oder sogar nicht schlafen lassen … Auch diesem Phänomen spürt er jedenfalls nach, Seite 22
Vogelhaltern fiel schon vor Jahrhunderten auf, dass Zugvögel zu bestimmten Jahreszeiten nachtunruhig werden … In Zeiten, in denen sie sonst schlafen und ruhen, in der Regel nachts, fällt eine Unruhe ein, die ihre Nacht zum Tag machen. Auf einmal hüpfen, flattern oder schwirren sie.
Als einer der großartigen Vogelzugforscher des Zwanzigsten Jahrhunderts hat Peter Berthold die nächtliche Zugunruhe enträtselt. Das lässt sich ebenfalls im MaroHeft Nr. 15 nachlesen und wird in den Endnoten, einer kleinen Literaturübersicht im Buchdeckel, gewürdigt.
Und die Grafik
Doch was wäre dieses Heft über nächtigende Vögel ohne die Original-Druckgrafiken von Ulrike Steinke, die mit farbenprächtigen Papierschnitten die Nacht zwar nicht zum Tag macht, aber sie erleuchtet. Scherenschnittartig schauen uns die schwarzen Vögel mit glühenden Augen an – wie Katzenaugen in der Nacht. Und der Hintergrund mit seinen kühlen und zugleich warmen Farbtönen verrät, wo wir uns gerade befinden.
Es sind dies durchweg Stadtlandschaften: der Buntspecht hockt an einem Schornstein. Die Graureiher – besser bekannt als Fischreiher – haben sich sinnigerweise an einer Station der Fischkette Nordsee niedergelassen. Singvögel und Eulen lauern im Schatten einer Straßenlaterne, und – wie großartig! – die Amsel hat ihr Nest in eine Ampelanlage gebaut und lässt sich vom Leuchten eines McDonald’s nachts animieren: sie singt.¹
All diese Abbildungen sind eine Freude und zugleich ein Hoch auf die belebte, teils verborgene und meist unbeachtete Stadtnatur. Die Künstlerin verzaubert die Dunkelheit. Sie schlägt zugleich eine Brücke zu den Fensterbildern² vergangener Zeiten, als aus Schwarzkarton und buntem Transparentpapier mit Schere und Klebstoff statt mit Klicken und Ziehen viel Wundersames entstand.
Die Papierschnitte von Ulrike Steinke sind indes keine Folklore, sondern die freche, moderne Interpretation eines fast vergessenen Kunsthandwerks.
Danke also für das Lesezeichen, das jedem Büchlein beiliegt³, und für das großformatige Plakat mit einer Vogelwelt zwischen U-Bahn und S-Bahn, zwischen Patisserie und Mülleimer. Da zischt ein Mauersegler über den Himmel, Herr Buntspecht knabbert am Meisenknödel, und die kluge Krähe hat längst einen Happen erspäht.
¹ Das ist natürlich eine Anspielung an die (vor allem) städtische Lichtverschmutzung. Sie flunkert den Vögel Dämmerung vor und verführt sie, zu Unzeiten zu singen.
² In der Schulzeit nutzten wir den schwarzen Einband „verbrauchter“ Schulhefte, um mit Transparentpapier bunte Fensterbilder und wackelige Windlichter zu fabrizieren.
³ Vom Verlagsgründer Benno Käsmayr erfuhr ich, dass es drei verschiedene Versionen des Lesezeichens gibt. Nicht immer hämmert also der Buntspecht, mal schwimmen Enten im Teich oder die Haubenlerche thront auf einem Zaun.
Wo sind die Vögel nachts?
Autor: Cord Riechelmann; Grafik: Ulrike Steinke
Verlag: MaroVerlag
Jahr: 2024
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