Vogelnester sind bei kleinen Singvögeln oft wahre Kunstwerke. Nicht nur die Flechttechnik von afrikanischen Webervögeln ist ungemein faszinierend, auch Grünling, Waldlaubsänger & Co schaffen aus Pflanzenmaterial kleine Wunder. Eine ganz außergewöhnliche Konstruktion fertigt die Beutelmeise an. Nach dem Motto: Nomen est omen baut sie ein beutelförmiges Nest, das mit einem Zweig verflochten ist und von dort herabhängt.
Ihr Nest, ein herrliches Kunstwerk, ist nur an seinem oberen Ende befestigt und hängt also, wie die Nester der Webervögel, frei, in den meisten Fällen über das Wasser herab.
So beschreibt Alfred E. Brehm in Brehms Tierleben (Leipzig und Wien, 1900, Vögel Bd. 1) auf Seite 185 das Nest der Beutelmeise. Der Naturforscher Brehm – ein Kommunikationsgenie in Sachen Tierkunde – bedauert, dass er diese Meisenart nur einmal, und zwar bei einem Jagdausflug mit Erzherzog Rudolf, dem Kronprinzen von Österreich, am Nest beobachten konnte.
Das ist nicht verwunderlich, denn in Deutschland und auch in Österreich ist sie noch nicht lange als Brutvogel bekannt. Sie ist ein Neuankömmling. Erst im 20. Jahrhundert hat sich die Beutelmeise von Osten immer weiter nach Westen ausgebreitet. Sie kam über Polen und die Baltischen Staaten, erschien hierzulande zunächst an der Oder und im Peene-Tal. Längst ist sie sogar in West- und Südwesteuropa heimisch. Darum können wir ihre beutelförmigen Nester und sie selbst heutzutage häufiger bei uns entdecken als Alfred Brehm und andere Ornithologen im 19. Jahrhundert.
Bei Wind schaukelt der hängende Beutel, in dem wahrscheinlich schon Eier liegen, heftig von links nach rechts.
Die Flechtkonstruktion ist erstaunlich robust. Sie muss ja auch in der Brutsaison, die im April beginnt, Wind und widriges Wetter überstehen. Und weil das Flechtwerk den Winter mehr oder minder gut überdauert, finden wir Nester auch dann, wenn der Vogel im fernen Winterquartier ist.
Wo die Beutelmeise lebt
Zwar habe ich schon einige Male ein Nest der Beutelmeise entdeckt, aber entweder war es unbewohnt, für mich unerreichbar – weil die Vögel vielfach in feuchtem Gelände brüten – oder die Meise wollte sich nicht blicken lassen. Ein möglicher Grund: Manchmal haben Beutelmeisen zwei Nester beziehungsweise zwei Bruten in Arbeit – sind also anderweitig beschäftigt.
In Litauen aber hatte ich Glück: Nahe einer gemischten Kolonie aus Lachmöwen und Fluss-Seeschwalben schaukelte nicht nur ein Beutelmeisen-Nest in einer Weide voller Blütenkätzchen, es ließ sich dort auch der Besitzer oder die Besitzerin blicken: mal im Geäst, mal direkt am Nest
Genauer betrachtet, sind Beutelmeisen unverkennbar. Das liegt an der tiefschwarzen Maske, die sich – wie eine finstere Schlafmaske – über die Augenpartie erstreckt. Die Unterseite des Vogels ist hell, quasi beige oder – wie auch gesagt wird – isabellfarben.² Die Oberseite ist hingegen braun getönt.
Worauf es im Frühjahr ankommt
Wenn Beutelmeisen aus dem südwesteuropäischen Winterquartier in ihrem Brutgebiet ankommen, sind mache von ihnen bereits verpaart. Sie beginnen dann schnurstracks mit dem Nestbau, an dem sich beide Geschlechter beteiligen. Den Start machen meist die Herren, die Damen stoßen bald dazu.
Zu Beginn des Frühjahrs ist es überlebenswichtig, dass die Versorgung mit Insekten gesichert ist. Nahrung finden die Vögel zunächst vor allem in blühenden Bäumen, wie Weiden und Pappeln, später auch im Buschwerk. An den Blüten tummeln sich unzählige Insekten, die sich von Pollen und Nektar ernähren. Auch im Schilf werden Beutelmeisen fündig, weil etwa in den verblühten Rohrkolben kleine Blattläuse, Raupen und Spinnen aus der Winterruhe erwacht sind.
Damit ist auch umrissen, wo wir Nester von Beutelmeisen finden: an blühenden Weiden und anderen frühblühenden Gehölzen, oft in der Nähe schilfbestandener Gewässer.
Anders als Amsel, Nachtigall & Co sind Beutelmeise nicht damit beschäftigt gesanglich – und gegebenenfalls durch Kämpfe – ein bestimmtes Revier abzustecken. In der Zeit des Nestbaus wird Konkurrenz allerdings in einem Radius von 100 m um das Nest herum vertrieben. Beutelmeisen bewachen also keine „Außengrenzen“. Das spart Energie, bedeutet andererseits, dass ihnen manchmal Nistmaterial von Artgenossen oder artfremden Vögeln stibitzt wird. All das und vieles mehr ist in dem wunderbaren Buch Die Beutelmeise von Manfred Schönfeld im Detail nachzulesen.³
Vom Nestbau
Die Beutelmeise verwendet beim Nestbau diverse Materialien, die im Bauprozess unterschiedliche Funktionen haben. Manfred Schönfeld spricht von Flechtmaterial, Stopfmaterial und Polstermaterial.
Flechtmaterial: Zum Flechten verwendet der Vogel bis zu 30 cm lange gespleißte Fasern von Brennnesseln und wildem Hopfen, von der Waldrebe und wildem Lein. Außerdem werden Rindenbastfasern der Weide sowie Halmfasern des Schilfrohres und des Rohkolbens verflochten, so dass nach und nach das beutelförmiges Gebilde entsteht.
Stopfmaterial: Um die Lücken zwischen den verflochtenen Halmen zu stopfen, werden die Flugsamen von Rohrkolben und ab Mai auch diejenigen von Pappeln und Weiden genutzt. Außer weiterer Pflanzensamen, etwa von Wollgras und Disteln, sammelt die Beutelmeise Haare von Wildkaninchen und Hase, von Eichhörnchen, Wildschwein und Schaf ein. Sie dichten damit das Nest ab und sorgen für eine gute Wärmeisolation.
Polstermaterial: Beim Auspolstern des Nestes spielen die weichen Flugsamen von Pflanzen wie Pappeln, Weisen, Wollgras und Disteln die Hauptrolle. Wenn vorhanden, wird auch Schafwolle verwendet oder aber die Federchen von Vögeln.
Naturliebhaber, Vogelkundler und versierte Ornithologen habe viel Zeit damit verbracht, die Bautätigkeit der Beutelmeise zu beobachten, zu beschreiben und zu gliedern: Immer werden zunächst einzelne Zweige des Wirtsbaums mit Flechtmaterial umwickelt. So entsteht zuerst eine „Schaukel“, daraus bald ein „Henkelkorb“, dann werden die einander gegenüberliegenden, lukenartigen Öffnungen verkleinert. Schließlich wird eine Seite verschlossen und auf der anderen ein tunnelartiger Zugang angesetzt.
In Die Beutelmeise stieß ich auf eine anschauliche Grafik von W. Beitz, die das Geschehen in Bauphasen unterteilt (in der Mitte der Henkelkorb!) und aus zwei Blickrichtungen festhält, Seite 131.*
Während verpaarte Beutelmeisen meist gemeinsam den Nestbau angehen, sieht bei unverpaarten Vögeln die Sache anders aus. Hier baut ein männlicher Vogel längere Zeit allein, während er versucht durch Gesang und Anzeigen seines Nestes eine Partnerin anzulocken. Auch das hat W. Beitz grafisch sehr überzeugend umgesetzt, Seite 115.
1. Weibchen erscheint in der Nähe des Nestes.
2. Männchen im Henkelkorb singt leise lockend vom Nest aus.
3. Weibchen am Nest, während das Männchen in der Tiefe des Beutels verschwindet.
4. Männchen verlässt das Nestund singt danach leise von einem Zweig in der Nähe.
„Meine” litauische Beutelmeisen, ein Männchen und seine Partnerin, waren mit der Konstruktion schon weit gekommen, als ich ihr Nest entdeckte. Es entsprach bereits dem Typ „Henkelkorb“ und war bis auf die zwei lukenartige Fenster weitgehend geschlossen. In diesem Stadium können – wie bereits erwähnt – durchaus einige wenige Eier im Nest liegen. Denn mit der Eiablage warten die Damen nicht, bis der Beutel fertig ist.
Wer bei dem folgenden Video, das ich im Zeitlupenmodus (um 10% verlangsamt) eingestellt habe, genau hinschaut, erkennt nicht nur, dass die Beutelmeise ein wenig an einem Halm zupft und ihn neu einflicht, sondern auch dass der Schnabel aufgeht. Der leise Lockgesang ist allerdings in der Zeitlupe verzerrt und nicht zu hören.
Vom „Eheleben“ der Beutelmeise
Allerlei Fragen – die teils noch nicht beantwortet sind – wirft übrigens das „Eheleben“ der Beutelmeise auf. Als Paar treten die beiden nur drei bis vier Wochen in Erscheinung, und zwar während des Nestbaus. Sobald das Gelege vollständig ist, gehen sie in der Regel getrennte Wege. Meist scheint die Partnerin ihren männlichen Artgenossen „vor die Tür zu setzen“. Es kann aber auch umgekehrt sein.
Wer am Nest bleibt, kümmert sich um den Nachwuchs. Der oder die Vertriebene hält derweil nach einem neuen Partner Ausschau. Männliche Beutelmeisen bauen oft zeitnah ein neues Nest. Offenbar ist der Nestbautrieb bei den Herren ausgesprochen stark. Im Schnitt kommen sie auf zwei Beutelnester pro Saison. Die Damen sind es übrigens, die bei der Kopulation die Initiative ergreifen.
Um es kurz zu machen: Bei Beutelmeisen finden sich sowohl polygyne als auch polyandrische Beziehungen. Diese Flexibilität in Sachen Fortpflanzung ist offenbar eine gelungene Evolutionsstrategie dieser Art. Nicht zufällig breitet sich die Beutelmeise seit Jahrzehnten westwärts aus.
Nachklapp: Alfred E. Brehm hat die Natur mit ihren Lebensbedingungen für Pflanzen, Tiere und Menschen als Netzwerk betrachtet. Darum berichtet er u.a. in Brehms Tierleben, dass sich die Mongolen – zumindest im 19. Jahrhundert – von Beutelmeisen-Nestern auch Heilwirkungen bei Krankheiten erhoffen und sie auf vielerlei Art zubereiten. Dass manche Nester nicht nur einen, sondern zwei tunnelartige Ausgänge haben, hat übrigens zu einer kuriosen Spekulation geführt. Brehm berichtet, Seite 186
Außerdem glauben die Mongolen, daß, im Falle das Nest zwei Ausgänge besitzt, die darin wohnenden Gatten in Unfrieden leben, dagegen, wenn, wie gewöhnlich, eine Öffnung da ist, daß das Männchen in dieser während der Brutzeit wacht.
¹ Männliche und weibliche Beutelmeise unterscheiden sich wenig. Die Herren sind etwas kontrastreicher gefärbt und die dunkle Augenmaske ist etwas größer.
² Isabellfarben: Der Ton wird mit dem von Milchkaffee verglichen.
³ Manfred Schönfeld, Die Beutelmeise, Die Neue Brehm-Bücherei, Bd. 599, 1994, Westarp Wissenschaften/VerlagsKG Wolf, Magdeburg,)
* Für die Möglichkeit, die Grafiken aus Die Beutelmeise zu nutzen, danke ich der VerlagsKG Wolf in Magdeburg, die das Erbe von Die Neue Brehm-Bücherei hochhält.
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