Manchmal lockt mich ein schöner Sonnenaufgang früh aus den Federn, und gerade im März höre ich dann oft, dass unsere Amsel singt. Ich nennen sie Gartenamsel, weil sie offenbar das ganze Jahr in unserem sowie des Nachbars Garten verbringt. Aber: Sie ist eigentlich ein ER, also ein singender Amselhahn.
Vermutlich macht er manchmal Ausflüge zum nahegelegenen Friedhof, wo sich vor allem in der kalten Jahreszeit viele Amseln und auch andere bei uns überwinternde Singvögel herumtreiben.
Wenn der Frühling naht – und bei gutem Wetter sogar schon im Februar –, hockt der Sänger morgens hoch oben in einer Lärche vor meinem Küchenfenster. Das ist eine seiner Singwarten, wie wir in der Ornithologie erhöhte Orte nennen, auf denen Singvögel Platz nehmen, so dass ihre Lieder weit klingen.
Noch bevor morgens die Sonne aufgeht, singt der Amselhahn dort oben. Immer verschwindet er irgendwann aus der Lärche und taucht unten im Gartengrün auf. Später dann höre ich seinen Gesang aus der Krone einer knorrigen Robinie. Dort bescheint ihn am Nachmittag und bis gegen Abend die warme Frühlingssonne – sofern sie vorhanden ist.
Wenn ich eine Amsel singen höre, muss ich häufig an die Vorlesungen, Seminare und Publikationen von Dietmar Todt denken, der am 4. April 2025 seinen 90. Geburtstag begeht. Ihm widme ich diesen Blogbeitrag. Denn vor weit mehr als einem halben Jahrhundert war der Gesang der Amsel sein Ausgangspunkt und lange sein Schwerpunkt für die experimentelle Erkundung der Verhaltenssteuerung.¹
Unzählige Forschungsfragen zum Einsatz, zur Struktur und dem Erwerb des Gesangs wurden – nicht nur am Beispiel der Amsel – in seiner Arbeitsgruppe am Institut für Verhaltensbiologie der Freien Universität Berlin bearbeitet. Dort bin ich, speziell im Bereich Bioakustik, als Verhaltensbiologin groß geworden und wurde promoviert. Wie bereits zum 85. Jahrestag sage ich nun auch zum 90. Danke für spannende Impulse, für manch eine Herausforderung und für viele gute Jahre.
Der Garten als Lebensraum
Wie schon erwähnt ist im Garten unserer Hausgemeinschaft eigentlich immer „mein“ Amselhahn zu sehen oder zu hören. Aber es muss über die Jahre nicht immer derselbe sein, es kann der Sohn von einem Sohn von einem Sohn sein …
Amseln können viele Jahre alt werden. Das verrieten etwa die Ringe von einer Amsel, die vor über 13 Jahren beringt worden war, und von einer anderen, deren Beringung 17 Jahre zurück lag. Häufig überleben Jungvögel aber das erste Jahr nicht, oder sie werden nur drei, vier oder immerhin fünf Jahre alt.
Ich habe ja schon von den Habichten und Sperbern berichtet, die in unserem Garten aufkreuzen. Da wird auch mal eine Amsel – und nicht nur der Haussperling – zur Beute. Da jedoch viele Singvögel zum Brüten den Ort aufsuchen, wo sie selbst aus dem Ei geschlüpft sind, kann ein Sohn den Platz – also das Revier – seines Vaters besetzen, wenn dieser dort nicht mehr lebt.
Es ist eine neuere Entwicklung, dass die Amsel – eigentlich ein scheuer Waldvogel – die Parkanlagen, Gärten, Friedhöfe und baumgesäumten Straßen von Großstädten wie Berlin bevölkert.* Und es ist ein Glück für uns Menschen. Hier und da werden viele Singvögel heutzutage durch unsinnige Gartengestaltung („Schottergärten”) und angebliche Gartenpflege vertrieben.
Aber in unserem Garten ist der dunkle Drosselvogel sehr präsent. Denn dort herrscht mehr natürliche Vegetation und Wildwuchs als zerstörerische Gartenpflege.
Manchmal sind mehrere Amselhähne da, um im Boden etwa nach Regenwürmern oder Engerlingen zu fahnden, manchmal kommen weibliche Vögel dazu, manchmal entstehen heftige Streitereien. Es gibt viel zu beobachten, etwa wenn eine Amsel „auf Jagd“ ist: der Kopf ist vorgestreckt, er wird zur Seite gelegt, sie lauscht. Und der Vogel auf den folgenden Fotos ist nun tatsächlich eine SIE, die nach verborgener Nahrung sucht.
Wenn eine Amsel im Boden stochert, dann meist erfolgreich. Hier präsentiert sie gewissermaßen ihre Beute, bevor sie zügig abfliegt.
Neben der Besiedlung der Stadt, ist auch das eine neuere Entwicklung: Manche Zugvögel, darunter die Amseln, bleiben heutzutage ganzjährig bei uns, d.h. in West- bzw. Mitteleuropa. Sie schlagen sich hier durch und verlassen die bekannte Umgebung nur, wenn es allzu frostig wird. Da spricht man dann von „Winterflucht“.
Sofern Amseln das Weite suchen, fliegen sie süd-westwärts und überwintern häufig in Südfrankreich. Als erste kommen im Februar die männlichen Amseln aus ihrem Winterquartier zu uns zurück. Es heißt für sie nun, rasch ein Revier zu etablieren, um eine der etwas später eintreffenden Damen für sich zu gewinnen.
Weiblein und Männlein
Von den Geschlechtsunterschieden bei Vögeln habe ich schon oft berichtet: Mal sind sie offensichtlich und wir sprechen von Geschlechts- oder Sexualdimorphismus, mal sind sie minimal, und manchmal fehlt jeglicher äußerlich erkennbarer Unterschied. Sofern solche Unterschiede bestehen, sind diese zur Paarungszeit besonders deutlich. Das spiegeln Beschreibungen wieder wie schillerndes Prachtkleid bei den Herren und unauffälliges Schlichtkleid bei den Damen. Attraktiv das eine, eine gute Tarnung das andere. Auch wenn eine Amsel singt, ist sie schlecht getarnt. Darum ist der Gesang eine Sache der Herren.
Wer Amseln beobachtet, kann trotz etwa gleicher Körpergröße am Äußeren meist gut erkennen, ob es sich um ein männliches oder weibliches Wesen handelt: Bei den Damen ist das Federkleid mehr bräunlich als schwarz und im Brust-Bauch-Bereich ist es leicht gesprenkelt beziehungsweise getropft. Der Schnabel ist matt gelb getönt. Die fast schwarz gefiederten Herren sind mit ihrem orange-gelben Schnabel und dem intensiv gelben Augenring viel auffälliger.
Und da wir beim Gefieder sind: Hin und wieder fällt auf, dass bei einer dunklen Amsel – früher auch Schwarzdrossel genannt – einzelne weiße Federn aufleuchten. Ihnen fehlt das schwarze Melanin. Aus biologischer Sicht ist das eine genetisch bedingte Abweichung oder Anomalie, die
sich entweder hält und weitervererbt wird, weil sie solchen Vögeln keine Nachteile bringt, oder
in der Population häufiger wird, weil sie sogar Vorteile bietet, oder
nachteilig ist und via Selektion wieder verschwindet, weil solche Vögel keinen Bruterfolg haben. (Vielleicht mögen potenzielle Partnerinnen den weißen Firlefanz nicht oder der Vogel wird durch seine Auffälligkeit eher zur Beute von Habicht & Co.)
Manchmal ist die ganze Amsel weiß – jedenfalls mehr oder weniger. Sofern ihr Schnabel gelb-orange ist, das Auge dunkel und ein gelblicher Augenring erkennbar ist, handelt es sich nicht um eine Form von Albinismus, sondern um Leuzismus.
Auch das ist eine genetisch bedingte Abweichung – und für den Vogel nicht unbedingt vorteilhaft.
Doch die weiße Amsel aus dem Stadtpark von Berlin-Steglitz hat trotz ihres auffälligen Äußeren lange gelebt.
Sie hatte als „Schnee-Amsel” einen eigenen Auftritt in diesem Blog und war als Besonderheit sogar in einer französischen Naturzeitschrift abgebildet. Seit mehr als drei Jahren wurde sie allerdings weder von mir noch von anderen Vogelbegeisterten gesichtet. War’s der Habicht?
Vom Gesang
Zurück zum frühmorgendlichen Gesang der Gartenamsel vor meinem Fenster. Amseln sind Frühaufsteher und singen schon im Morgengrauen etwa 45 Minuten vor Sonnenaufgang.** Dazu fliegen sie auf eine Singwarte und reihen dann eine Strophe an die andere. Wie diese klingt, beschreibt Hans-Heiner Bergmann in der sehr nützlichen App Die Stimmen der Vögel Europas so
Die Strophe setzt sich aus volltönenden, feierlich flötenden Elementen in tiefer Tonlage zusammen, sie endet mit leiseren, schnirpsenden bzw. geräuschhaften und in der Tonlage höheren Elementen.
Und nun eine Darbietung meiner Gartenamsel zum Anhören und im Anschluss ein paar Anmerkungen zur Struktur von Amselgesang.
Der Gesang der Amsel lässt sich in Strophen gliedern, die mit kurzen oder längeren Pausen dazwischen aufeinander folgen. Jede Strophe ist aus mehreren einzelnen Elementen zusammengesetzt und rund 3 Sekunden lang. Längst ist bekannt, dass eine Amsel verschiedene Strophen singt (Burkhard Stephan: Die Amsel, Neue Brehm-Bücherei, 1999) . Das ist ihr Repertoire.
Was und wie eine Amsel singt, ist nicht im Detail angeboren, aber die Grundstruktur – eine Folge von zu Strophen gebündelten Elementen in einem auch für uns hörbaren Frequenzbereich – ist genetisch vorgegeben.
Der Rest ist Lernen – und ein anderes Thema. Nur so weit: Männliche Amseln lernen eine Menge von ihrem Vater, den sie am Nest ständig hören. Sie singen später ähnliche Strophen, aber auch ganz andere. Denn Amseln übernehmen diverse fremdartige Lautmuster aus ihrem Umfeld.
Diese Lautmuster lassen sich in Form von Sonagrammen, auch Sonogramm oder Spektrogramm genannt, auf Papier oder digital darstellen und analysieren.
Wohl das skurilste Beispiel für das Lernvermögen von Amseln bieten Strophen mit Klingeltönen von Handys, darunter eine Version des ehemals weitverbreiteten Nokia-Modells. Das Handy meldete sich mit einer hübschen Melodie und die passte offenbar gut in die angeborene Grundstruktur des Amselgesangs. Der Klingelton wurde von den Vögeln kopiert: Als Vorlage dienten klingelnde Handys und sicher auch Klingelton-singende Artgenossen. Wie oft hat sich damals jemand auf die Suche nach dem Handy gemacht … und es war die Amsel!
Viele Menschen haben darüber nachgedacht, warum Amselgesang uns so nahe geht und vermuten, dass der melodiöse Verlauf ausschlaggebend ist. Er ist Musik in unseren Ohren. In seiner kleinen Vogelstimmenkunde Wie die Vögel singen*** erklärt der Zoologe und Tierschriftsteller Richard Gerlach, Seite 68
… dass ihre Lieder von allen einheimischen Vogelgesängen der menschlichen Musik am ähnlichsten kommen … Die Klangfarbe ist ähnlich wie bei der Oboe, Klarinette oder Orgel. Die Amsel trägt allegretto oder allegro vor; der Rhythmus ist stetig: „Tradüh tradüh durdjü darüid“, volltönend, hundertfach abgewandelt, Dreiklänge in Dur und seltener auch in Moll, aufwärtsgerichtete Quinten und Kadenzen in Septimen … Der Stimmumfang ist ebenso erstaunlich wie der unerschöpfliche Reichtum an Erfindungen.
Warum die Amsel singt
Aber was soll nun die schöne Singerei? Was bringt es, nicht nur eine, sondern gleich mehrere Strophen im Repertoire zu haben? Mit solchen Fragen sind wir bei Dietmar Todt und seinen frühen bioakustischen Experimenten. Diese belegen, dass Amseln nicht irgendwie – also rein zufällig – ihre Strophen absingen und dass sie diese auch nicht in starrer, immer gleicher Abfolge produzieren. Vielmehr reihen sie diese nach bestimmten Regeln und dabei durchaus kreativ aneinander.¹ ² Zum Beispiel:
Eine Strophe, die länger nicht dran war, wird nach einer gewissen Zeit wieder gesungen.
Oder: Auf eine Strophe A folgt häufig Strophe B, aber auch Strophe G oder L.
Andere Strophen werden nach A hingegen nur selten gesungen.
Amselhähne haben ein Repertoire von bis zu 30 verschiedenen Strophen. Diese lassen sich nach ihrem Eingangselement klassifizieren und werden entsprechend in Typen eingeteilt. Erst auf dieser Grundlage ließ sich nachweisen, dass der Reviergesang für unsere Ohren zwar schön klingt, dass aber von den singenden Vögeln akustisch messbar gerangelt und gekämpft wird. Doch der Reihe nach.
Eine der Funktionen von Gesang ist, ein Revier akustisch zu markieren. Es wurde beispielsweise – zunächst an Meisen – belegt, dass bereits deren sehr schlichte Singerei Konkurrenten auf Abstand hält. Neuankömmlinge suchen dann lieber das Weite. Oder es wird heftig gekämpft.
Amseln interagieren auf sehr spannende Weise, wenn sie ein Territorium beanspruchen: Sofern Revierbesitzer X singt und der Amselhahn Y stößt dazu, reagiert der Eindringling Y auf die Strophen von X – und umgekehrt.³ Das Prinzip dabei ist, als Y eine möglichst ähnlich beginnende Strophe aus dem eigenen Repertoire für die Antwort auf X zu wählen, und außerdem gleich nach dem ersten Element von X loszuschmettern, um so den Gesang des Revierbesitzers – speziell das Ende seiner Strophe – zu überlagern.
Wie das in einem Sonagramm aussieht, illustriert die folgende Abbildung. Hier wurde dem Vogel eine seiner eigenen Strophen vorgespielt, und er antwortete dann mit einer Strophe, die identisch anfing. Das Ganze wirkt so als würde der Antwortende dem Vorsänger ins Wort fallen.
Wie unangenehm! Und kein Wunder, dass bei territorialen Konflikten einer der Kontrahenten sich früher oder später davon macht – der bisherige Revierbesitzer oder der Neuankömmling.
Dietmar Todt beschrieb das Reagieren mit einem ähnlichen Strophenanfang als äquivalente Antwort und bezeichnete diese Form der Interaktion als vokales Drohen.4 In zahlreichen Vorspielexperimenten – also mit Amselgesang aus dem Lautsprecher, der entweder natürlich klang oder durch Wiederholungen, Auslassungen beziehungsweise fremde Elemente manipuliert worden war – ließen sich vielerlei Geheimnisse des Vogelgesangs aufgedecken.
Sie geben nicht nur Einblick in die zentralnervöse Verhaltenssteuerung von Vögeln, sondern informieren uns auch über die Ansprüche einer Art an den Lebensraum. So muss etwa zur Fortpflanzungszeit für die Revierbildung aussreichend Platz da sein, damit die Herren nicht permanent aneinandergeraten und damit die Damen mit Größe und Ausstattung des Reviers einverstanden sind. Sonst gibt es nämlich keinen Nachwuchs. Aber die Damenwahl ist schon wieder ein anderes Thema.
Bei so viel Forschung stellt sich natürlich die Frage, ob der Amselgesang in unseren Ohren noch immer zauberhaft klingt, wenn wir über seine Funktionen und die Produktion nachdenken? Was bedeutet es, wenn wir wissen, dass hier ein Revier behauptet wird, und wenn wir annehmen müssen, dass der singende Vogel weder am Morgen den Sonnenaufgang begrüßt, noch von seiner eigenen Melodie berauscht ist und deshalb singt …?
Ich meine, mehr zu wissen, bedeutet hier nicht, dass die Glücksgefühle, die Vogelgesang hervorrufen kann, verloren gehen. Und das Staunen nimmt definitiv zu.
* Es fiel Vogelkundlern im 19. Jahrhundert auf.
** Vogeluhr auf der Webseite des NABU: https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/voegel/vogelkunde/voegel-bestimmen/20663.html
*** Richard Gerlach, Wie die Vögel singen, 1960, Rüschlikon-Zürich/Ausgabe Büchergilde Gutenberg
¹ D. Todt, Gesangliche Reaktionen der Amsel (Turdus merula L.) auf ihren experimentell reproduzierten Eigengesang, 1970, Z. vergl. Physiol. 66, 294 -317
² D. Todt & J. Wolffgramm, Überprüfung von Steuerungssystemen zur Strophenanwahl der Amsel durch digitale Simulierung, 1975, Biol. Cybernetics, 17, 109-127
³ D. Todt, Prinzipien vokaler Kommunikation bei höheren Wirbeltieren, Sber. Ges. Naturf. Freunde (Sonderdruck), 1981, Bd. 20/21
4 D. Todt, On Functions of Vocal Matching: Effects of Counter-replies on Song Post Choice and Singing, 1981, Z. Tierpsychologie, 57, 73-93
Amsel oder Schwarzdrossel | Merle noir | Common Blackbird | Turdus merula
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