Wer das großformatige, wunderbar illustrierte Buch „Die Ostatlantische Vogelzugroute“ zur Hand nimmt, wird mit einer Vielfalt von Informationen über Zugvögel, deren Flugrouten und die Erforschung ihrer Zwischenstopps auf den langen Flugstrecken belohnt.
Rasch weitet sich der Blick vom heimischen Wattenmeer der Nordsee – also vor unserer Haustür und bei unseren Nachbarn Dänemark und den Niederlanden – in eine weitgehend unbekannte Ferne. Die Lektüre macht klar: Die Vogelwelt der norddeutschen Watten ist auf Gedeih und Verderben verbunden mit außergewöhnlichen Lebensräumen im hohen Norden, sogar bis jenseits des Urals, und mit einigen schwer zugänglichen Wattgebieten im Süden längs der westafrikanischen Atlantikküste und darüber hinaus.
Peter Prokosch hat als einer von elf Autoren – darunter zwei ukrainischen Autorinnen – einen facettenreichen Überblick zu fernziehenden Küstenvögel herausgegeben. Sein Verdienst ist es auch, dass hier sehr unterhaltsam und persönlich die Geschichte der Einrichtung von Naturschutzzonen erzählt wird. Auch die Verhandlungen und die Kämpfe darum!
Eingestreut in die 18 recht unterschiedlichen Kapitel, die inhaltlich auf der Fachtagung East Atlantic Flyway Week von 2023 auf der Hallig Langeneß basieren, enthält das Buch Interviews mit den maßgeblichen Wissenschaftlern.
Blicke in die Ferne
Das Wattenmeer der Nordsee ist bekanntermaßen ein wertvoller Dreh-und Angelpunkt für all die Zugvögel, die zweimal im Jahr auf der ostatlantischen Route unterwegs sind. Viele Arten sind an der Nordseeküste nur Gäste. Sie kommen teils schon im Sommer aus ihren hochnordischen Brutgebieten, die in den küstennahen Tundra-Gebieten am Polarkreis zwischen Grönland und der Russischen Föderation liegen, bei uns gewissermaßen vorbei. Die Langstreckenzieher steuern dann via europäischer Atlantikküste einzelne ausgedehnte Watten in Westafrika an.
Einige dieser Zugvögel überwintern an westeuropäischen Küsten, andere verschlägt es bis nach Südafrika. Im zeitigen Frühjahr treten sie die Rückreise in ihre nördlichen Brutgebiete an und legen an der Nordsee wiederum einen Zwischenstopp ein.¹
Erst in den letzten 50 Jahren wurde diese ostatlantische Vogelzugroute der Küstenvögel genauer untersucht und ihre Bedeutung erkannt. Angeregt von Wissenschaftlern, die damals im Wattenmeer der Nordsee forschten, machten sich junge und durchaus abenteuerlustige Biologen und Nicht-Biologen auf den Weg in unbekannte Regionen.
Dass sie später die Idee von Naturschutzgebieten in Wattgebieten energisch und nachhaltig fördern würden, war anfangs nicht abzusehen.
Spannende Reiseberichte
Von den frühen Forschungsreisen finden wir gleich mehrere anschauliche Berichte in Die Ostatlantische Vogelzugroute. Diese Einblicke in die Zugvogelforschung sind unterhaltsam geschrieben und bieten durch die persönlichen Erfahrungen der Autoren allerlei Kuriositäten. Das ist ornithologische Geschichtsschreibung und in dieser Form einzigartig.
Es geht da zum Beispiel um erste Kontakte ab 1988 zwischen westdeutschen und russischen Zugvogelforschern. Es geht um staatliche, wissenschaftliche und naturschützende Institutionen, die es westeuropäischen Forschern ermöglichten, an der nördlichsten Küste Sibiriens Zugvögel wie die Ringelgans oder den Knutt zu beringen. Und es geht um die Möglichkeit durch Kooperationen, etwa der Russischen Akademie der Wissenschaften und westeuropäischer Experten – inklusive dem WWF –, Nationalparks in Sibirien zu erweitern und im riesigen Lenadelta die Artenvielfalt im Hinblick auf neue Schutzzonen zu erkunden.
In weiteren Kapiteln wird beschrieben, wie es dazu kam, dass auch in Grönland, Island und Spitzbergen große Flächen, auf denen Zugvögel aus dem Wattenmeer brüten, unter Schutz gestellt wurden. Dazu zählt etwa eine Population des Knutts, die sich im Winter in den Wattgebieten der Nordsee aufhält und im Frühjahr zum Brüten nordwestlich abfliegt.
Faszinierend sind schließlich zwei Kapitel, die grandiose Einblicke in westafrikanische Wattgebiete bieten, und zwar an der Küste von Mauretanien und von Guinea-Bissau.
Und drei ukrainische Ornithologen stellen den Sywasch und das Wattengebiet am Asowschen Meer vor, wo schon vor Kriegsbeginn für die dort rastenden Zugvögel auf ihrem langen Weg zwischen der Tundra in Sibirien und Afrika definitiv nicht alles zum Besten stand.
Verknüpft sind diese Berichte über relevante und weitgehend unbekannte Regionen, in denen ziehende Küstenvögel energetisch auftanken, mit solchen Kapiteln, in denen Langzeitdaten über einzelne Vogelarten aufbereitet sind. Dazu gehören neben der Ringelgans, der Knutt und die Pfuhlschnepfe.
Transnationale Netzwerke
Ein wichtiger Bestandteil des Buches sind jene Abschnitte, die unzweifelhaft klar machen, dass der Nationalpark Wattenmeer und sein Status als UNESCO-Welterbestätte kein Zufall ist. Vielmehr ist der Schutz lebenswichtiger Regionen für Küstenvögel dem Engagement einzelner Personen und ihrer gelungenen Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg zu verdanken. Das gilt für viele andere Nationalsparks und Naturschutzgebiete ebenfalls.
Nicht zu vergessen sind in diesem Kontext auch Institutionen, die von den Protagonisten geschaffen wurden oder bereits bestanden. Sofern diese transnational arbeiten und international bekannt sind, sind sie ein wichtiger Hebel, wenn Areale unter Naturschutz gestellt werden sollen. Wirtschaftliche Gründe werden oft als Gegenargument auf den Tisch gebracht. Auch davon berichtet das Autorenteam, etwa in den Abschnitten
Vom Widerstand gegen Eindeichungen zu Nationalparks und Weltkulturerbe
Wie die Vorpommersche Boddenlandschaft kurzfristig zum Nationalpark wurde
Island: die Rettung von Eyjabakkar und Pläne für einen Hochland-Nationalpark
Svalbard – Von der Anti-Straßen-Kampagne zu neuen Nationalparks
Und immer stellt sich die Frage, wie die Politiker und Politikerinnen agieren. Dass internationale Absprachen wie die UN-Konvention zum Schutz wandernder Tierarten (CMS) richtungsweisend sein können, das ist heute unbestritten. Im Jahr 1979 auf den Weg gebracht, trat dieses Abkommen 1983 – auch bekannt als „Bonner Konvention“ – in Kraft. Es sorgt beispielsweise dafür, dass die sogenannten Arealstaaten, die fliegende oder wandernde Tierarten passieren und auf ihren Routen als „Tankstelle” nutzen, sich absprechen und erforderliche Schutzmaßnahmen koordinieren.
Wechselwirkungen und Auswirkungen
Die ziehenden Küstenvögel – und auch wir – hätten sicher viel verloren, wenn nicht Menschen wie Peter Prokosch, William Dick, Jim Wilson, Andrew St Joseph u.a. so hartnäckig gekämpft hätten und so gut vernetzt gewesen wären. Und wenn sie nicht die Zeichen der Zeit genutzt und oftmals auf ihr Glück vertraut hätten.

Strecken und Stopps (© Peter Prokosch)
Für alle, die an der Zugvogelforschung und ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen interessiert sind, bietet Die Nordatlantische Vogelzugroute außergewöhnliche Einblicke und ist spannende Lektüre.
Dass Peter Prokosch in Westdeutschland zu den Allerersten gehört hat, die ihren Zivildienst im Umweltschutz leisteten – und zwar auf der Hallig Langeneß –, soll an dieser Stelle auch noch erwähnt werden.
Erfreulich und heute nicht mehr selbstverständlich ist, dass es in diesem schönen Buch zu jedem Kapitel ergänzende Literatur gibt.
Auch auf ein gut sortiertes Register haben Herausgeber und Verlag Wert gelegt. Dieses ist dreiteilig und unterscheidet zwischen Personennamen, geographischen Begriffen und Namen von Tieren, Pflanzen und Institutionen.
¹ Einen perfekten Überblick über das Zugvogelgeschehen und seine Hintergründe bietet Das große Buch vom Vogelzug.
Die Ostatlantische Vogelzugroute
Hrsg.: Peter Prokosch
Verlag: Aula
Jahr: 2024





























0 Kommentare