Vögel zu beobachten, das ist wunderschön und erholsam. Aber manchmal ist die Vogelbeobachtung keine Freude, sondern das Geschehen ist bedrückend, gleicht einem Trauerspiel. Und das geht dann in der Regel nicht auf das Konto der Vögel. Derartiges erlebte ich jedenfalls dieses Jahr am Genfer See (frz. Lac Léman), wo unter anderem am französischen Ufer bei Ivoire öfter Gänsesäger zu sehen sind. Schon bald drängte sich mir die Frage auf: Wem gehört der See?
Auch in Genf, also auf der Uferseite der Schweiz, sind mir diese tiefliegenden und markant gezeichneten Wasservögel schon begegnet.
Genauer gesagt war auf der Rhone, in ihrem Ausflussgebiet aus dem Genfer See und nahe der Altstadt, ein kleiner Verband mit ausnahmslos männlichen Vögeln unterwegs.
Wie bei den Stockenten, den Reiherenten und ihren Verwandten werden die Männchen der Gänsesäger Erpel genannt.
Alle trugen das sogenannte Sommerkleid, das mit dem grauen Rücken und dem rotbraunen Kopfschmuck in dieser Jahreszeit dem Gefieder der Weibchen ähnelt.¹
Das und vieles Mehr ist in der wertvollen Monographie von Lothar Kalbe Der Gänsesäger nachzulesen (Die Neue Brehm-Bücherei, Bd. 604, Wittenberg/Magdeburg 1990).
Die Titelseite der Publikation zeigt oben das Männchen im Prachtkleid und darunter die Partnerin. Im Sommer tragen die Erpel nach ihrem Federwechsel ein eher schlichtes Kleid – also wie die Weibchen –, bevor ihnen dann zur Paarungszeit ein kontrastreiches Gefieder wächst.
Männliche Gänsesäger schließen sich im Juni beziehungsweise Juli zu Männergruppen zusammen. Denn wenn die Eier gelegt sind, überlassen die Herren den Damen die Sorge um die Nachkommen.
Heikle Vollmauser
Das ist keine Fürsorgeverweigerung, sondern macht Sinn. Denn für männliche Säger, Gänse, Schwäne und andere Entenvögel – also laut wissenschaftlicher Systematik für Vertreter der Familie der Anatidae – ist es geradezu typisch, nach der Brut die Vollmauser zu starten. Sie wechseln dann in rund vier Wochen das gesamte Großgefieder, also die Hand- und Armschwingen der Flügel und die Schwanzfedern, die das Steuerruder am Körperende formen.
Mausernde Entenvögel können sich in dieser Zeit zwar tauchend oder schwimmend ernähren, aber nicht fliegen! Mit anderen Worten: Sie sind einige Wochen außerordentlich gefährdet. Sie suchen störungsarme Regionen auf, und so mancher Wassersport ist eine Bedrohung.
Trauerspiel mit Motorboot
Als ich Ende Juli bei Ivoire eine große Gruppe von Gänsesägern entdeckte, war ich fasziniert: Gleichmäßig und zielstrebig schwammen sie vom Ufer zur Mitte des Sees. Es war früher Abend und die Sonne von Wolken verdeckt, weshalb die Szenen in ein graues Licht getaucht sind und der rotbraune Schopf der Säger nicht zur Geltung kommt.
Plötzlich hörte ich den Lärm eines Motorbootes, und durch mein Fernglas sah ich, wie die Vögel unruhig wurden. Das Boot näherte sich von links – und sie wussten offenbar nicht wohin.
Es wurde deutlich, dass die Vögel die Gefahr nicht einschätzen konnten. Vor allem wussten sie nicht, wohin das Motorboot fahren würde. Es näherte sich ihnen jedenfalls mit Tempo und zog dann eine Art Halbkreis. Vermutlich war der Schiffsführer angesichts der beachtlichen Ansammlung selbst neugierig geworden und wollte die Vögel aus der Nähe betrachten … oder doch aufscheuchen?
Das ließ sich aus der Ferne nicht beurteilen. Ich hatte vorläufig nur die Gänsesäger im Auge, also vor der Kamera mit starkem Zoom, und das Motorboot im Ohr.
Die Säger wirkten auf mich ziellos und wählten verschiedene Richtungen. Viele zögerten. Es dauert eine Weile, aber dann entschied der Verband lieber geschlossen zurück, also Richtung Ufer, zu schwimmen.
Und was macht der Bootsführer? Er nähert sich erneut der Gruppe, die nun in Panik versucht zu flüchten. Aber wie das so ist: Wem die Flügelfeder fehlen beziehungsweise wer Federn hat, die sich gerade erst herausschieben und entfalten, der kann auch als Vogel nicht abheben.
Mir stockte in der Tat der Atem, denn mehr als eine heftiges Rudern mit den Füßen und ein fruchtloses Schlagen mit den funktionslosen Flügeln war den Gänsesägern nicht möglich. Ein hilfloses Strampel.
Schließlich hatte ich genug gesehen und wollte wenigstens einmal das Motorboot im Bild festhalten. Auf dem folgenden Video sind die vergeblichen Flugversuche erkennbar – und am Ende des Abschnitts auch die Spur des Motorbootes, das hier einen flotten Bogen fuhr.
Als die Vögel gerade zur Ruhe kamen und sich neu formiert hatten, ließ der Bootsführer noch immer nicht von ihnen ab, näherte sich wieder. Und erkennbar ist, wie die Gänsesäger in Bootsnähe sich nochmals anders ausrichten müssen. Nach dem Motto: Bloß weg von dem unkalkulierbaren Motorboot.
Strafbares Verhalten
Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.
So heißt es im Deutschen Tierschutzgesetz gleich in §1. In den jeweils entsprechenden Passagen der französischen und der schweizerischen Getzgebung steht sinngemäß dasselbe.² Und dennoch gibt es solche Szenen:
Panik, wenn sich ein Fährschiff oder Motorboot nähert – gefilmt vom Schiffsanleger aus.
Wer geschützte, wildlebende Arten stört oder bedroht, muss laut der Gesetzgebung Frankreichs mit einer Geldstrafe von 750€ rechnen. Ornithologen, Naturfreundinnen und Umweltschutzverbände wie die französische Ligue pour la Protection des Oiseaux (LPO) halten die Strafhöhe für zu gering. Noch wichtiger wäre aber wohl, die Verursacher tatsächlich zu erwischen und die Bevölkerung eindeutiger zu informieren.
Dabei geht es in diesem Fall um zweierlei:
Mausernde Entenvögel sind zeitweilig flugunfähig. Sie versuchen mit höchster Anstrengung und panikartig Gefahren wie einem sich nähernden Motorboot zu entkommen. Jede Flucht verbraucht Energie.
Vögel in der Mauser sind generell ruhebedürftig und kräftemäßig am Limit, denn die Erneuerung des Federkleids kostet Energie. Stress und Fluchtversuche schaden den Vögeln.
Dass eine mutwillige Annäherung an flugunfähige Gänsesäger die Vögel nicht nur stört, sondern sie leiden lässt, ist keine Frage. Und der einsetzende Regen ist bei Wasservögeln sicher nicht ihr Problem…
Flüchtende, durch die Mauser flugunfähig Gänsesäger etwa 50 Meter vom Anleger entfernt
Was treibt die Gänsesäger an?
An zwei aufeinanderfolgenden Tagen konnte ich festhalten, wie gegen Abend eine Gruppe von 150 bis über 200 männlichen Gänsesägern von der französischen Seite aus auf den Genfer See hinaus schwamm. Aber warum?
Wenn ich alle Informationen zusammentrage, die ich von der französischen LPO, der Schweizer Vogelwarte Sempach und Lothar Kalbe erhielt, ergibt sich folgendes Bild:
Ganz offensichtlich waren diese Erpel in der Mauser und durch den Federwechsel gehandikapt. Eine offene Wasserfläche nutzen jedoch viele Entenarten gerade in der Nacht als Schutz, etwa vor Füchsen und anderen Beutegreifern. Sie dümpeln dann meist in einer großen Gruppe auf dem Wasser.
Der Sinn dieses Verhaltens dürfte mehr Schutz und Sicherheit in der Gruppe sein. Denn dass sie auf dem See Fische fangen wollten, ist unwahrscheinlich. Gänsesäger sind tagaktiv und die kleinen, fingergroßen Fische, von denen sie sich meist ernähren, leben eher in Ufernähe als mitten auf dem See.
Und dafür, dass sie schwimmend das gegenüberliegende Ufer erreichen wollten, spricht nichts.
Vielleicht noch diese Info: Gänsesäger leben holoarktisch, also rund um die Arktis. Es gibt sie in Kanada, in Russland… Eine Population brütet in Nordeuropa, eine andere im Voralpengebiet.
Die Nordeuropäer begeben sich für den Gefiederwechsel zu Tausenden an den Tanafjord und andere Fjorde in Nordnorwegen, berichtet Lothar Kalbe in Der Gänsesäger. Um diesen Mauserplatz von den Britischen Inseln, von Polen oder den nördlichen Bundesländern aus zu erreichen, machen sie einen Mauserzug Richtung Norden. Erst danach zieht die nordeuropäische Population südwärts. – Einige begegneten mir an der Brandenburgischen Havel und auch in Berlin. Viele fliegen weiter nach Süden und bereichern im Winter die Seen der Voralpen.
Die Gänsesäger, um die es in diesem Text geht, gehören nicht der nordeuropäischen Population an. Vielmehr leben sie ganzjährig am nördlichen Alpenrand, brüten und überwintern im Gebiet der Schweiz, im benachbarten Frankreich und in Süddeutschland – solange die Seen dort nicht zufrieren.
Wenn die Erpel dieser Voralpenpopulation im Sommer mausern, sehen wir sie als Männergruppen auf weitläufigen Gewässern wie dem Genfer See oder auch dem Bodensee. Die Weibchen leben zu der Zeit noch – gut verborgen – mit den Jungvögeln in der bewachsenen Uferzone.
Und der Schiffsverkehr…
Gänsesäger, die auf dem Genfer See die Mauserzeit verbringt, haben es generell nicht leicht. Denn es gibt nicht nur stressende Motorbootführer, sondern teils regen Schiffsverkehr. Zwischen dem französischen Ivoire und dem schweizerischen Nyons am gegenüberliegenden Ufer pendelt ein kleineres Fährschiff. Zusätzlich verbinden Raddampfer Ivoire mit Lausanne und Genf. Die Schiffe kommen beim An- und Ablegen den Sägern manchmal in die Quere.
Wie gut die Gänsesäger sich darauf einstellen können, kann ich nicht beurteilen. Immerhin fahren die Schiffe relativ konstant und halten ihre Richtung ein – außer in der Nähe des Anlegers, wenn sie dort beidrehen oder ablegen.
Das Fährschiff nähert sich: Einige fliegende Wasservögel³ und viele strampelnde Gänsesäger
Die gute Nachricht zum Schluss
Trotz der Gefahren, denen Gänsesäger durch uns ausgesetzt sind – von verschluckten Angeschnüren möchte ich hier nicht berichten –, gibt es auch eine gute Nachricht: Die Zahl der Brutpaare nimmt nicht nur am Genfer See, sondern im gesamten Voralpenraum zu.
Das ist kein Zufall, sondern Folge von einigen segensreichen Entscheidung. Denn Uferzonen von Flüssen und Seen wurden unter Schutz gestellt oder renaturiert. In Frankreich gilt der Gänsesäger seit 2009 als geschützte Art.
Zurück zur Ausgangsfrage: Wem gehört der See? Weder … noch oder sowohl … als auch, meine ich. Aber ganz offensichtlich fehlt es an Respekt gegenüber banalen Bedürfnissen der Tiere. Und Rücksichtlosigkeit muss bestraft werden.
¹ Das Prachtkleid der Männchen, das sie bereits im Winter entwickeln, sieht völlig anders aus: Es ist vornehmlich schwarz-weiß getönt und teils rosa überhaucht.
² Im Tierschutzgesetz der Schweiz steht zum Beispiel ganz oben – in Kapitel 1, Art. 1: „Zweck dieses Gesetzes ist es, die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen.“ Und das französische Umweltschutzgesetz verbietet, geschützte Tiere wie die Gänsesäger willkürlich zu stören (L 411-1 I 1°) und stellt dies unter Strafe.
³ Auf dem See gab es außerdem Stockenten, Kolbenenten, Blässhühner und Haubentaucher.
Gänsesäger | Harle bieèvre | Goosander | Mergus merganser
Was für eine herzzerreißende Geschichte, liebe Elke! Tat richtig weh, sie zu lesen. Umso mehr hab ich mich über das hoffnungsvolle Ende gefreut.
@ Johanna: Ich denke, wir können da eine ganze Reihe von herzzerreißenden Geschichten erzählen. So wurde erst kürzlich verhindert, dass in Berlin – noch vor dem großen Sturm – nah an einem Habichthorst größere Baumarbeiten mit schwerem Gerät durchgeführt wurden. Dabei arbeitete das Habichtpaar schon am Horst und paarte sich regelmäßig. Einem zufällig anwesenden Ornithologen, der die Gesetzeslage (Horstabstand) gut kennt, sei Dank.
Die Unkenntnis über die Natur und der noch vorhandenen Artenvielfalt der Menschen erschreckt mich immer wieder und verursacht bei mir Herzschmerz. Ich hoffe, daß Viele den Artikel gut durchlesen und verinnerlichen
Ja, das Erschrecken kenne ich. Da ist ein weites Feld zu beackern, denn es fehlt neben dem Wissen eben auch eine respektvolle Haltung anderen Lebewesen gegenüber.
Ein sehr guter Artikel , der gleichzeitig auch die Gründe genau beschreibt warum wir unser Verhalten gegenüber der Natur sensibilisieren müssen damit sie uns erhalten bleibt !
Es freut mich sehr, dass Sie den Text genau so lesen und verstehen.