Dies ist ein Buch, das aus der Reihe fällt. Daran lässt sein Titel keinen Zweifel: Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung. Arnulf Conradi hat weder ein biologisches Sachbuch geschrieben, noch eine Einführung in den Buddhismus, auch keine Autobiografie … und doch von allem etwas.
Für den klassischen Ornithologen, die vogelverbundene Naturschützerin, die Vogelguckerin oder den artenversessenen Twitcher scheint dieses Werk auf den ersten Blick kein Thema zu sein. Zen? Kunst? Wie bitte?
Und doch schätze ich, dass der Autor den einen oder die andere von ihnen mit seinem Blick auf die Gefiederten sogar begeistert – vor allem jedoch all jene, die sich fragen, warum ziemlich vernünftige Leute eine Passion für die Vogelwelt entwickeln und stundenlang in zugigen Beobachtungshütten herumstehen oder in unauffälliger Tarnkleidung, mit festem Schuhwerk und Fernglas durch die Landschaft – auch durch die Stadtnatur – stiefeln.
Sich Zeit nehmen und vergessen
Den Vögeln zuhören und zuschauen, sich dafür Zeit zu nehmen und diese zugleich zu vergessen, das macht etwas mit uns, weiß Arnulf Conradi schon aus Kindheitstagen an der Kieler Förde. Es ist diese unmittelbare Naturerfahrung – kein YouTube-Schnipsel –, die verlockend ist und gut tut. Was der Vogelkenner, Schriftsteller und Verleger damit meint, liest sich im Kapitel Die Uckermark so (Seite 81):
Teile der Seen tragen noch eine mit Schnee bestäubte Eisfläche, weil es vor wenigen Tagen sehr kalt gewesen ist. Auf dem Weg zum ersten Hügel ergreift mich plötzlich ein Glücksgefühl, und ich brauche einen Moment, um mir darüber klar zu werden, woher es kommt: Ich habe die erste Feldlerche dieses Jahres gehört, das ewige, immer gleiche quirlende Lied, das den Frühling ankündigt wie kein anderes.
An anderer Stelle schreibt er, der nicht nur in Deutschland sondern weltweit als Vogelgucker unterwegs ist, über die Beobachtung eines dahingleitenden Albatros (Seite 14):
Wenn man den Albatros sieht, ist man ganz bei dem Albatros und zugleich ganz bei sich. Da gibt es eine schwer zu erklärende Identität zwischen dem Sehenden und dem, was er sieht. Und von diesem Augenblick, diesem kostbaren Jetzt geht eine große Ruhe aus.
Was das Seelenleben und die Glücksgefühle angeht, wagt sich der Autor sogar so weit hinaus, dass er die Vogelbeobachtung für einen Schutz und ein probates Mittel gegen Depressionen hält. Auch wenn dafür die fachlichen Belege aus der Medizin fehlen und Conradi vielleicht mehr die Verstimmung, ständiges Grübeln oder Trauer vor Augen hat, es tut sicher vielen Menschen gut, die eigenen Vierwände und die digitale Welt zu verlassen, um Vögel zu beobachten.
Denn: Die Fokussierung auf die buntgefiederten, singenden oder tauchenden Lebewesen fasziniert, lässt den Alltag zurücktreten und spült aus dem Inneren Glücksgefühle hoch. (Ich kenne das, wenn in der Nähe ein Habicht gickert oder am Baumstamm ein gut getarnter Waldbaumläufer auf Insektensuche ist.)
Vogelbeobachtung als Meditation
Für Arnulf Conradi ist die nicht-zielgerichtete Vogelbeobachtung – die also ohne akribisches Artenzählen vonstattengeht – durchaus eine Form der Meditation. Über einen Morgenspaziergang an der Krummen Lanke in Berlin, wo er einen Rohrsänger, einen Drosselrohrsänger, lauthals knarren hört, schreibt er zum Beispiel (Seite 164):
Diese Übung – einfach nur zuhören, zuordnen und genießen – ist eine Form der Meditation, denn man konzentriert sich auf das, was man hört, auf Gesänge der Vögel und bleibt ganz im Jetzt. Dadurch bekommt der Spaziergang eine Frische und Gegenwärtigkeit, die nicht nur auf den jungen Morgen zurückzuführen ist. Man verliert sich nicht in Gedanken, lebt ganz und gar im Augenblick und hört zu, was die Künstler der Vogelwelt bieten. Das erfüllt einen, und man kommt erfrischt nach Hause zurück.
Welche Rolle die buddhistische Lehre des Zen für den Vogelfreund Conradi spielt, vermittelt er in zwei kleinen Kapiteln, um so bei seinen Vogelbetrachtungen zwischen Sylt, der mecklenburgischen Peene und Balderschwang in Bayern hin und wieder auf meditative Aspekte der nicht-ehrgeizigen Beobachtungen unserer gefiederten Mitgeschöpfe zu verweisen.
Im passenden Ton
Zwei Dinge will ich noch erwähnen. Erstens: Was den Gesang von Amsel und Nachtigall angeht, möchte man sich gerne in den Disput um die Kunstfertigkeit der beiden Arten einmischen. Denn hier gibt es eine fruchtbare wissenschaftliche Diskussion um die Vielfalt der Gesänge und das Lernvermögen – und ein schönes Beispiel für bürgerwissenschaftliches Engagement. Wohingegen Arnulf Conradi sich mit einiger Lust beim musikwissenschaftlichen Expertentum um 1900 aufhält.
Aber nun ja, dieses Buch ist ein ganz persönliches Sachbuch, und der Autor bestimmt den Fokus. Und den Ton! Diesen trifft er auch beim legendären Lummensprung von der Helgoländer Klippe ganz wunderbar.
Dazu zweitens: Oft erinnert mich der Tonfall an den (auch von mir) hochgeschätzten deutschen Ornithologen Johann Friedrich Naumann aus dem 19. Jahrhundert. Das gilt etwa für die Beschreibung einer Wasseramsel in den Alpen – und wie Arnulf Conradi uns die Tücken, sie zu entdecken, mit wenigen Worten nahebringt (Seite 150):
Sie ist auf der Oberseite schokoladenbraun bis schwarz und hat eine weiße Brust, die bauchwärts mit einer rotbraunen Binde abschließt, und eine weiße Kehle. Sie ist also farblich gut zu erkennen und kaum zu verwechseln. Man nimmt sie zuerst im Flug wahr, denn wenn sie auf einem Felsen sitzt, ist das Schwarz-Weiß ihres Federkleides dem Schaum des Wasser, dem Schnee und den schwarzen Steinen so gut angepasst, dass sie schwer auszumachen ist. Hat man sie einmal gesehen und gehört, sind ihr rundliches Aussehen und ihr Gesang unverkennbar.
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen, außer (Seite 146):
Das Vogelbeobachten ist eher eine Lebensform als ein Hobby, man tut es eigentlich immer, man guckt stets nach Vögeln.
Wer sich auf Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung einlässt, wird das elegant gestaltete Büchlein gerne lesen und mit Gewinn beiseitelegen. Versprochen.
Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung
Autor: Arnulf Conradi
Verlag: Antje Kunstmann, München
Jahr: 2019 (1. Aufl.)
0 Kommentare