Diese beiden Vogelarten, den Waldbaumläufer und den Gartenbaumläufer, möchte ich schon lange einmal ausführlicher vorstellen. Denn hat man sie erst einmal entdeckt, sind sie bezaubernd. Aber die kleinen Baumbewohner zu enttarnen, das ist nicht so leicht. Sie länger im Auge zu behalten oder gar zu fotografieren, wenn sie am Stamm hochspurten, ist eine echte Herausforderung.
Und dann stellt einen die Unterscheidung der beiden Baumläufer, deren Outfit und Verhalten sehr ähnlich sind, immer wieder vor Probleme. Kein Wunder, dass sich bei der Frage, ob es sich um eine oder zwei Arten handelt, schon die beiden großen deutschen Vogelkenner, Alfred Edmund Brehm und Johann Friedrich Naumann, in die Wolle gekriegt haben. Aber der Reihe nach.
Überraschung im Steglitzer Garten
Meinen allersten Gartenbaumläufer entdeckte ich in unserem Garten. Es war ein Jungvogel, der etwas verborgen an der Hauswand saß und förmlich schrie.
Ich habe den kleinen Kerl rasch fotografiert und sogleich in Ruhe gelassen, denn ein neugieriger Kater streunte irgendwo in der Gegend herum.
Danach habe ich den einen oder anderen Baumläufer im Grunewald gesichtet, aber das war‘s.
Denn: Kaum hatte ich das Fernglas vor den Augen, verschwand er auf der Rückseite des Stammes, und wenn ich meine Position wechselte, tat er das auch. Meist dauerte es dann auch nicht lange, bis der kleine Vogel ein paar Bäume weiter flatterte und verschwand.
Ganz ähnlich, aber natürlich in seiner Sprache des 19. Jahrhunderts, hat Johann Friedrich Naumann dieses so typische Verhalten – es kann einen zur Verzweiflung treiben – beschrieben (Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas, 1887-1905, 3. Aufl., Bd. II, S. 326).
Er hält es beim dem „Klettervögelchen“, wie er es nennt, nicht für Scheu oder Furcht, sondern es ist
seine allzugroße Lebhaftigkeit und Unruhe, wodurch er sich den Blicken des Beobachters entzieht. Dies umso schneller zu bewirken, hat er die Gewohnheit, sich an die entgegengesetzte Seite des Baumschaftes zu begeben und auf dieser schnell hinauf zu klettern, wo dann nur zuweilen das Köpfchen hervorguckt; auch fliegt es nicht selten von dieser Seite weg und so unbemerkt an einen anderen Baum.
Ein „Ssrih“ verrät die Klettervögelchen
Kürzlich hatte ich aber nahe der Krummen Lanke, die zu jener Seenkette gehört, die sich am Rand des Berliner Grunewalds erstreckt, endlich etwas Glück. Ich hörte das typisch „Ssrih. Ssrih“ eines Baumläufers – und entdeckte ihn. Passend dazu las ich zu Hause im Naumannschen Klassiker (a.a.O. Seite 325):
Der Aufenthalt dieses kleinen behenden Vögelchens würde oft verborgen bleiben, zumal auf großen alten Bäumen, wenn er sich nicht meistens durch seine Stimme verriete.
Wie das im Wald häufig der Fall ist, war es schattig und meine Fotos sind auch darum nicht top. Aber genauso sieht man einen Baumläufer häufig: angeschmiegt an die Borke, farblich gut angepasst an seine Umgebung und auf dem Weg nach oben – entweder strikt geradeaus oder spiralig um den Stamm herum.
Im Gegensatz zum Kleiber bewegen sich Baumläufer immer aufwärts, Richtung Baumwipfel. Wenn sie oben sind, fliegen sie schräg nach unten zum Fuß eines anderen Baumes, um von dort aus den nächsten Stamm zu erkunden.
Gut zu wissen ist, dass sich die Baumläufer zwar an allen möglichen Stämmen aufhalten können, aber eine glatte Oberfläche meiden. Je rauer und gefurchter die Rinde, desto besser. Denn in den Kerben der Borke finden sie Nahrung: Insekten, deren Eier und Larven, Puppen von Schmetterlingen, Spinnen.
Für ihre Art der Nahrungssuche ist es von Vorteil, dass der feine Schnabel leicht gebogen ist. Und die langen Zehen und Zehennägel sorgen dafür, dass die Kletterer guten Halt haben: drei Zehen sind nach vorne gerichtet und einer nach hinten. (Per Klick lassen sich am PC alle Fotos vergrößern.)
Außerdem ist der Stützschwanz nicht nur für Spechte, sondern auch für den Baumläufer wichtig. Kein Wunder, dass die Federn ziemlich zerschlissen sind, wenn der Vogel im Spätsommer sein Federkleid wechselt. Rein äußerlich sind die weiblichen und männlichen Vögel übrigens kaum zu unterscheiden, auch die flüggen Jungen haben bereits das braun-gemusterte Gefieder der Erwachsenen – wie mein Foto weiter oben im Blog zeigt.
Der wissenschaftliche Disput
Johann F. Naumann, der zu Recht als Begründer der mitteleuropäischen Ornithologie gilt, und Alfred E. Brehm, der vielen durch Brehms Tierleben noch heute bekannt ist, waren Zeitgenossen und haben sich intensiv mit den Erkenntnissen des anderen auseinandergesetzt.
Im 19. Jahrhundert haben sie unzählige Tierarten genau beschrieben, nachdem sie die Tiere in der Natur beobachtet, in Gefangenschaft gehalten oder – wie damals üblich – geschossen und seziert hatten.
Ihre Daten, die sie durch Berichte anderer Naturforscher, Jäger und Hobbyornithologe ergänzten, waren für die wissenschaftliche Ornithologie grundlegend. Oft waren die beiden Koryphäen gleicher, manchmal verschiedener Meinung. Und sie tauschten durchaus ihre Daten aus!
Für Naumann gab es nur eine Art Baumläufer. Aber die 3. Auflage seines Hauptwerks, die lange nach seinem Tod erschien, enthält eine Zeichnung mit zwei Arten: den Grauen Baumläufer („Waldbaumläufer”) und darunter die kurzzehige, langschnäblige Brehmsche Art („Gartenbaumläufer”).
Mehrere Ornithologen präsentierten damals allerlei Messdaten von Schnabel-, Flügel- und Zehenlängen, um ihre Ansicht zu untermauern. Dabei zeigte sich jedoch vor allem, dass diese Merkmale von Vogel zu Vogel stark variieren können.
Minimale Unterschiede
Heute gelten der Gartenbaumläufer und der Waldbaumläufer als verschiedene Arten, wobei Waldbaumläufer eine rein weiße Unterseite haben und einen etwas kürzeren Schnabel als Gartenbaumläufer. Deren Unterseite ist etwas schmuddeliger, der Schnabel etwas länger und die Hinterzehe kürzer.
Der Gartenbaumläufer brütet fast nur in Mitteleuropa. Aber auch in Nordafrika und Georgien kommt er als Brutvogel vor. Bei uns sieht man ihn in Gärten und auch in städtischen Parkanalgen. Vor zehn Jahren lag der Bestand hierzulande bei insgesamt 450 000 bis 550 000 Revieren, lese ich im ADEBAR (Atlas Deutscher Brutvogelarten, 2014, S. 536).
Der Waldbaumläufer hat eine viel größere Verbreitung. Sein Brutgebiet erstreckt sich von Großbritannien über Südskandinavien und Mitteleuropa quer durch waldreiche Gebiete in Asien bis nach Japan. In Deutschland sieht man ihn am ehesten in den Wäldern der Mittelgebirge – aber eben auch nördlich von Berlin, zum Beispiel im Müritz-Nationalpark, und offenbar im Berliner Grunewald. Die Anzahl der Reviere in Deutschland wurde vor zehn Jahren auf 270 000 bis 450 000 geschätzt – mit starken Schwankungen von Jahr zu Jahr.
Und im Winter?
Im Winter bleiben die beiden Baumläuferarten meistens im Lande. Man sieht sie eventuell auf Reetdächern oder an Holzwänden nach kleinem Getier suchen – vor allem auf der Sonnenseite, wo diverse Insekten bei Wärme munter sind.
Wird es sehr kalt, dann ziehen Waldbaumläufer westwärts in mildere Gebiete und kehren eventuell bald wieder zurück, wenn die Temperaturen bei uns günstiger werden. Sie sind also Strichvögel oder Teilzieher. Übrigens kommen im Winter aus Skandinavien und Russland Waldbäumläufer zu uns, die im hohen Norden gebrütet haben. Sie ziehen südwärts, wenn dort wegen der Kälte die Insekten ausgehen.
Vom Nutzen der Artenvielfalt
Ich komme nochmals auf Johann F. Naumann zurück, der zu einer Zeit lebte, als bei uns noch millionenfach Singvögel gegessen wurden. Vor diesem Hintergrund betont er, dass es besser wäre, die kleinen Kletterer in Freiheit nach Schadinsekten jagen zu lassen, als die paar Gramm auf den Tisch zu bringen. Er weiß um ihren eigentlichen Nutzen.
Dazu abschließend noch ein Zitat, weil der Vergleich mit den Meisen die Bedeutung von Biodiversität für die Natur und für uns uns hervorhebt (Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas, 1887-1905, 3. Aufl., Bd. II, S. 330):
Dies kleine Vögelchen hat ein recht wohlschmeckendes Fleisch; es wäre jedoch sündlich, um eines so winzigen Bissens willen ein so nützliches Geschöpf zu töten, das den Wald- und Gartenbäumen durch das Aufzehren einer unsäglichen Menge schädlicher Insektenbrut so wohltätig wird. Er macht sich um die Kultur unseres Obstes ebenso verdient wie die Meisen, denn er sucht ähnliche Baumverderber, aber wieder in anderen Verstecken aus, und während jene die Zweige und Knospen davon reinigen, durchsucht er die Schäfte und stärkeren Äste, wo jene nicht so gut wie er dazu gelangen können.
Gartenbaumläufer | Grimpereau des jardins | Short-toed Treecreeper | Certhia brachydactyla
Waldbaumläufer | Grimpereau familier | Eurasian Treecreeper | Certhia familiaris
Wir haben just gerade einen Gartenbaumläufer an unserem Amber hochladen sehen. Wir kannten den kleinen Vogel nicht, haben dann diesen tollen Artikel gefunden. Vielen Dank für die wirklich gelungenen Fotos, aber auch die gute Beschreibung der Tierchen ist klasse!
Liebe Bärbel und Ilona, eure Kommentare sind natürlich eine große Freude für mich. Wie schön, dass die Vogelwelt euer und mein Leben bereichert. Über die Logos für SocialMedia-Kanäle und E-Mails – am Ende jedes Blogbeitrags – könnt ihr gerne meine Berichte weiterleiten. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen besser verstehen wollen, wie Vögel leben und warum ihr knapp gewordener Lebensraum schützenswert ist. Ich grüße euch, Elke.
Ein schöner Artikel . Beide sind wirklich schwer zu unterscheiden
Liebe Elke Brüser,
seit einiger Zeit erfreue ich mich nun schon an den neuesten Berichten und Fotos,die Sie so liebevoll und interessant gestalten. Auch die Tipps für die Bücher sind toll, einige besitze ich und durch Ihre Anregung sind noch weitere hinzugekommen.
Heute nun ist der Anlass der Baumläufer. Wir wohnen in Frohnau und seit vielen Jahren beobachte ich ihn und erfreue mich an ihm. Schön, dass Sie ihn fotografisch einfangen konnten, was mir noch nicht gelang.
Auf viele weitere Vogel- und Tiererlebnisse freut sich
Karen Herring
Liebe Karen Herring, herzlichen Dank für die Rückmeldung. Und ja, die Baumläufer machen es einem nicht leicht! Es freut mich auch, dass Ihnen meine Buchtipps gefallen, die derzeit in meinem Blog auf eine neue Seite ziehen. Gerade heute gab es dazu eine E-Mail von Federkiel, weil ich „Die Sprache der Vögel“ bei den Vogelbüchern unter Wissenswertes neu eingestellt habe.
Der Grund: Heute früh erfuhr ich, dass Norbert Scheuer auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019 ist. Nicht mit „Die Sprache der Vögel“ (2015), sondern mit „Winterbienen“.