Was das Vergnügen einer Flugschau mit Greifvögeln angeht, da scheiden sich die Geister. Das ist verständlich. Denn während die einen Seeadler, Wüstenbussard und Lannerfalke endlich aus der Nähe bestaunen und ihre Flugmanöver beobachten wollen, kritisieren andere, dass die Vögel in zu kleinen Volieren leben, eine Haube tragen und hungern müssen. So generell stimmt das jedoch nicht.
Zugegeben, ich bin eher an der Seite derjenigen, die von Flugschauen mit Greifvögeln fasziniert sind. Aber ich möchte unbedingt vogelfreundliche Standards für die Darbietungen und die Haltung, bin natürlich auch für Kontrollen bei den zuständigen Falknern und Falknerinnen. Schließlich: Dass junge Greife niemals aus einem Horst entnommen werden dürfen, versteht sich von selbst. Strafen dafür können nicht hoch genug sein.
Herzerwärmend
Nach dieser Vorrede möchte ich auf das Buch von Sandra Jung zu sprechen kommen, das ich jetzt gelesen habe. Es ist nicht nur informativ und unterhaltsam geschrieben, sondern schlichtweg herzerwärmend. Und wer braucht das nicht in Zeiten der aktuellen COVID-19-Pandemie.
Die junge Falknerin hat mit Die Herrscher der Lüfte und ich. Mein Leben mit den Greifvögeln nicht etwa ein Sachbuch über die Falknerei geschrieben oder Rezepte geliefert, wie aus einem Andenadlerküken ein Greif wird, der sich bei Flugschauen in höchste Höhen schwingt und auf Kommando zielgerichtet auf dem Handschuh der Falknerin oder des Falkners landet. Nein, wie der Titel schon verrät, schreibt die Autorin mit einer unverhohlenen Ich-Perspektive. So lässt sie uns teilnehmen an ihrer Freude, ihren Erfolgen und den Befürchtungen, die sie im Alltag mit Adler & Co. auf Burg Greifenstein in Thüringen erlebt.
Der Weg zur eigenen Falknerei
Dort nämlich ist sie mit ihrem Lebensgefährten und einer Gruppe von Greifen angekommen, nachdem sie 2009 durch eine Flugschau auf die Greifvögel gestoßen ist. Mit 16 Jahren. Zunächst wird sie Helferin in der Falknerei, macht noch vor dem Abitur die Jagdschein- und Falknerprüfung, arbeitet immer selbstverantwortlicher mit verschiedenen Greifvogelarten. Kein Wunder, dass sie irgendwann einen eigenen Vogel führen und trainieren darf. Das ist der Wüstenbussard Dexter.
Wie sie die erste Begegnung mit ihm beschreibt, sagt viel über ihren Umgang mit Greifen aus und zugleich über den Tenor des Buches (Seite 56):
„Hallo, kleiner Mann“, säusele ich dem Vogel entgegen. Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu und knie mich hin. Mindestens drei Meter trennen uns noch immer, ich weiß schließlich nicht, wie das Tier auf mich reagiert… Ich will ihn schließlich nicht erschrecken.
Und auf die Frage eines Freundes, warum sie – obwohl längst mit Wüstenbussarden gut vertraut –, so zögerlich sei und ob sie denn Berührungsängste habe, verrät Sandra Jung in ihrem unverstellt jugendlichen Ton:
„Nein“, kichere ich und versuche möglichst unbeteiligt und professionell zu wirken. Warum eigentlich? Ich weiß es nicht. Ich will mein Gefühlschaos geheim halten, ich bin aufgeregt und nervös. Meine Nerven flattern und mein Magen macht Purzelbäume…
Als sie dann näher an den jungen Greif herankommt:
„Knöt knöt“, macht er, ein Geräusch, das ich inzwischen lieben gelernt habe. Es ist ein leiser Kontaktlaut des Tieres, mit Interesse und Neugier, rein aus Kommunikationsgründen geäußert.
Der Wüstenbussard Dexter bleibt nicht der einzige Greif der Falknerin und ihres Lebensgefährten Benedikt Nyssen, kurz Ben. Und während sie eine Ausbildung macht, arbeitet und studiert, reift der gemeinsame Plan, mit Ben eine eigene Falknerei inklusive Flugschau zu betreiben. Denn immer häufiger werden die beiden Falkenkundigen für Festlichkeiten oder Veranstaltungen engagiert.
Bei der Lektüre unterhaltsamer Details aus ihrem Leben erfahren wir ganz nebenbei, wer in einem Greifvogelpaar der „Terzel” ist, was „Schlingfresser” bedeutet, wozu die „Brente” gut ist… Und wer weiß schon, dass Wüstenbussarde die einzigen Greifvögel sind, die in Gruppen jagen.
Um es kurz zu machen: Ben gibt seinen Job auf, Sandra das Studium, und beide siedeln um auf die Burg Greifenstein in Thüringen, wo sie sich ganz den Herrschern der Lüfte widmen können und eine Falknerei übernehmen.¹
Wertschätzung und „Liebe“
Das Besondere dieses Buches ist die große Wertschätzung und Liebe zu den Greifvögeln. Darum nennt Sandra Jung ihren Andenadler Kayla schon mal zärtlich „meine Maus“. Für sie und Benedikt Nyssen ist klar, dass sie ihre Vögel nicht nur für Flugschauen aus den Volieren holen, sondern ihnen täglich einen Freiflug ermöglichen. Sie sorgen auch im Winter dafür, denn Schnee und Temperaturen um die Null Grad sind in der Regel kein Hindernis. Die Gründe liegen auf der Hand (Seite 62)
Der tägliche Freiflug ist unerlässlich, um dem Greifvogel ein gesundes und artgerechtes Leben zu bieten. Durch das Flugtraining wird der Stoffwechsel angeregt und Muskulatur aufgebaut, und der Vogel bleibt fit und gesund.
Mehrfach kommt Sandra Jung auf die Freiheit der trainierten Greife zu sprechen, etwa als Kayla an einem stürmischen Tag mit starken Windkräften zu tun hat und sich dadurch immer weiter von der Burg entfernt (Seite 194)
Mit zusammengekniffenen Augen beobachte ich meinen jungen Adler, kaum fähig zu begreifen, welche Höhen sie dort zum ersten Mal in ihren jungen Jahren erreicht. Auf einmal ist sie so selbstständig. Die Welt liegt ihr nun, Hunderte Meter über Burg Greifenstein, komplett zu Füßen. Was immer sie tut, liegt in ihrer Entscheidung.
Und weiter im Text:
Diese Gedanken lassen mich angst und bange werden. Was, wenn sie beschließt, dass sie mich als ihren Partner nicht mehr braucht, denn wir wissen beide, dass sie auch ohne mich zurechtkäme. Alle Greifvögel sind nach wie vor wilde Tiere, welche sich das Leben mit ihrem Menschen auf einer gleichberechtigten Eben teilen und kooperieren. Keiner hat dem anderen etwas voraus, hat den anderen in der Hand.
Wie dieser Ausflug endet, möchte ich nicht verraten und das Buch all jenen empfehlen, die sich für die Flugmanöver von Greifvögeln und kleine Episoden aus dem Leben einer stolzen Falknerin interessieren.²
¹ Vor rund 15 Jahren habe ich dort zufällig einen Zwischenstopp eingelegt, und einem Falkner beim Training seiner Greife zugeschaut. Ich erinnere mich an einen großen Flugraum; denn es war März, draußen sehr windig und kalt.
² Die Falknerei von Burg Greifenstein freut sich über Spenden und die Übernahme von Patenschaften für einzelne Vögel. Das geht anderen Falkenhöfen ähnlich. Die Greife brauchen immer Nahrung und Betreuung, aber Flugschauen sind derzeit nicht möglich.
Die Herrscher der Lüfte und ich
Autorin: Sandra Jung
Verlag: Ullstein
Jahr: 2019
0 Kommentare