Dieses außergewöhnliche Buch haben Karl Schulze-Hagen und Gabriele Kaiser in meinen Augen zu Ehren des „Team Heinroth“ entworfen und äußerst ansprechend verwirklicht.
Zugleich haben sie eine kleine Geschichte der Verhaltensbiologie geschrieben, die in der Tat ihre Wurzeln in der Vogelkunde – also der Ornithologie – hat.
So jedenfalls lese ich diesen wertvollen und zudem sehr unterhaltsamen, reich bebilderten Text über drei Menschen, die im 20. Jahrhundert Außergewöhnliches für die Ornithologie geleistet haben: Oskar Heinroth, seine erste (überraschend und früh verstorbene) Frau Magdalena und seine zweite Frau Katharina.
Anders ausgedrückt: Es geht in diesem Buch um
einen großartigen, international anerkannten Ornithologen, der – wie nebenbei – das Berliner Aquarium entworfen und 30 Jahre geleitet hat,
eine ausgezeichnete Tierpräparatorin mit einem Händchen für die Aufzucht junger Vögel, deren Beobachtungsprotokolle für die Publikationen des Teams Heinroth wesentlich waren
und um eine kluge Zoologin, die sich an der Seite ihres Ehemanns ebenfalls der Ornithologie verschrieb und die – als erste deutsche Zoodirektorin – nach dem 2. Weltkrieg den Berliner Zoologischen Garten aus Trümmern neu entstehen ließ.¹
Eine Passion
Dem Autorenduo von Die Vogel-WG gelingt es, die Passion und die Weitsichtigkeit dieser drei Menschen mit einem Text, der mit Zitaten angereichert, durch Quellen gut belegt und wunderbar illustriert ist, greifbar zu machen. Dazu haben der Arzt und Biologe Karl Schulze-Hagen und die Bibliothekswissenschaftlerin Gabriele Kaiser unter anderem den Nachlass von Heinroth – versammelt in der Berliner Staatsbibliothek – durchkämmt. Die Vogel-WG ist ein gelungenes Kondensat ihrer vielseitigen Recherchen.
Worum es dem Team Heinroth ging, lässt sich im zweiten Teil des Buches am besten greifen. Dort präsentieren die beiden Autoren einzelne Vogelarten – als Textauszug aus dem Heinrothschen Klassiker Die Vögel Mitteleuropas. In diesem vierbändigen Werk mit über 300 Vogelmonographien und rund 3.000 Fotos geht es immer wieder um die Nestjungen, ihr Aussehen und arttypisches Verhalten. Dazu ein Textausschnitt zum Pirol (Die Vogel-WG, S. 199):
Wenn die Nestlinge um Futter betteln, recken sie nur die Hälse in die Höhe, die Körper aber liegen völlig fest in der Nestmulde. Auch die Tatsache, dass sich junge Pirole ganz unglaublich fest am Nestboden anklammern, liegt wohl daran, dass der kunstvolle Bau ziemlich weit außen in den Zweigen hoher Bäume hängt, die oft stark vom Wind gerüttelt werden. Würden sich die Tiere hoch aufrichten und dabei nach Art vieler anderer Vögel im Nest stehen, so würden sie bei Sturm hinunterfallen.
Bereits dieser kurze Passus deutet Oskar Heinroths Forschungs- und Erkenntnisziele an: Ihm ging es nicht um die systematische Zuordnung eines Vogel anhand von Vogelbälgen – also toten, präparierten Exemplaren –, sondern um charakteristische Verhaltensweisen einer Art. Zentral war ihm dabei die Frage, wie jeweils Lebensraum, also ökologische Bedingungen, und Verhalten zusammenpassen, also via Evolution aufeinander abgestimmt sind.
Und warum der spätere Nobelpreisträger Konrad Lorenz seinen Ziehvater Heinroth als Begründer der Tierpsychologie bezeichnet hat – obwohl heute Lorenz als dieser gilt –, lässt sich etwa an dieser Passage über das Rotkehlchens ablesen (Die Vogel-WG, S. 227):
Nach unseren Erfahrungen gehört das Rotkehlchen zu den klügsten Kleinvögeln, die wir kennen. Es lernt nicht nur ungemein schnell, alle Vorbereitungen richtig zu deuten, die der Pfleger bei der Futtergabe trifft, sondern lässt auch so leicht keinen Mehlwurm von oben her durch eine Käfigdrahtdecke hindurchfallen, lernt die Bedeutung der Käfigtür von innen und außen erstaunlich schnell und lässt sich gut abrichten.
Es war die aufwändige Vogelhaltung im Hause der Heinroths, die eine systematische Beobachtung, Protokollierung und fotografische Dokumentation des Verhaltens und seiner Entwicklung ermöglichte. Und an dieser Arbeit waren Magdalena und Katharina Heinroth, die beide auch Vorträge und Publikationen verfassten, maßgeblich beteiligt. Daran lässt das Buch Die Vogel-WG keinen Zweifel.
Revolutionäres Denken
Wie das Team Heinroth funktionierte, beschreiben Karl Schulze-Hagen und Gabriele Kaiser im ersten Teil ihres Buches. Darin geht um Bildungswege, Krankheiten und andere Sorgen der Heinroths. Aber es geht auch darum, wie sie Vogeleier von der Insel Helgoland oder aus dem Schwarzwald beschaffen konnten, wie sie Futter für ihre Nestlinge besorgt und ihnen trickreich in den Schnabel manövriert haben. Wir erfahren schließlich, welch passionierter Fotograf Oskar Heinroth schon Anfang des 20. Jahrhunderts war und warum seine fotografische Dokumentation der Entwicklungsschritte junger Vögel revolutionär war.
Das gilt übrigens für sein wissenschaftliches Denken insgesamt: Schon als junger Forscher räumte er mit der bis dahin geltenden Vorstellung auf, dass Vögel ihr Gefieder im Jahreslauf umfärben, und belegte seinerseits, dass sie via Mauser ihr Federkleid wechseln. Später wurde er durch seinen speziellen Blick auf das Vogelleben zum eigentlichen Begründer der Verhaltensbiologie. Sie wird auch als Verhaltensforschung, Tierpsychologie oder Ethologie bezeichnet.
Worum es ihm ging, beschrieb er mit eigenen Worten so (Die Vogel-WG, S. 50)
Es kommt uns hier nicht auf Balgwissenschaft, auf örtliche Formen und Unterarten an, sondern auf Feinheiten in der Lebensweise, auf Wachstum und Entwicklung, auf Federwechsel, auf Triebhandlungen und geistige Fähigkeiten, also auf Dinge, die bisher wenig berücksichtigt worden sind.
Obwohl Oskar Heinroth keinen großen Wert darauf gelegt hat, ein stimmiges theoretisches Gebäude zu etablieren, haben sein Forschungsansatz und seine Resultate viele andere Biologen und Biologinnen beeinflusst. Und wichtige Begriffe der Verhaltensbiologie wie Prägung, Stimmfühlungslaut oder Triumpfschrei entstammen seinem Denken, seinen Publikationen und seinen zahlreichen öffentlichen Vorträge. Viele Menschen zu erreichen und für die Natur zu begeistern, war ihm wichtig. Kein Wunder also, dass sein großes Werk Die Vögel Mitteleuropas im Plauderstil gehalten ist.
¹ Das biografische Buch von Katharina Heinroth Mit Faltern begann’s (Kindler, 1979) ist eine empfehlenswerte Ergänzung zu Die Vogel-WG.
Die Vogel-WG
Die Heinroths, ihre 1000 Vögel und die Anfänge der Verhaltensforschung
Autoren: Karl Schulze-Hagen, Gabriele Kaiser
Verlag: Knesebeck, München
Jahr: 2020
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