Im Herbst treffen alljährlich viele tausend Kraniche aus Skandinavien, Polen und dem Baltikum in nördlichen Regionen Deutschlands ein. Es ist dies ein wichtiger Zwischentopp zum Auftanken. Zur selben Zeit sind auch Kranichzähler und Kranichzählerinnen frühmorgens um 6 Uhr auf den Beinen, zum Beispiel im Rhinluch nordwestlich von Berlin.
Ab Mitte September bis weit in den November hinein wird dort einmal pro Woche an zwölf verschiedenen Standorten rund um die alten Fischteiche von Linum gezählt, wie viele Kraniche hier die Nacht im Flachwasser stehend verbracht haben.
Die eindrucksvollen Vögel verlassen nämlich bei Sonnenaufgang ihren Schlafplatz. Zum Frühstücken sozusagen.
Das frühmorgendliche Spektakel habe ich mir schon einige Male angeschaut. In diesem Jahr lud mich Hubert Pomplun – er hat 2011 die Stiftung Kranichland gegründet – dazu ein, gleich bei der ersten Kranichzählung im Jahr 2020 dabei zu sein.
Ich war bereits tags zuvor aus Berlin angereist und hatte nachmittags und abends die von der Sonne vergoldeten Kraniche beobachtet. Was alle Menschen dabei unbedingt beachten sollten, um die Vögel nicht zu stören, hat zum Beispiel Kranichschutz Deutschland zusammengefasst.
Treffen der Zählfreudigen
Um 5.30 Uhr machte ich mich am nächsten Morgen auf den Weg zum Treffpunkt in Linum, wo sich einmal pro Woche die Zählfreudigen vom Landschaftsförderverein Oberes Rhinluch und weitere Kranichbegeisterte einfinden. Um 6 Uhr wurden die rund 20 Zähler und Zählerinnen namentlich gelistet und den verschiedenen Standorten zugeteilt. Dann ging es los. Nicht mehr bei Nacht, aber bei Nebel.
Gerade am Zählstandort angekommen, erhoben sich bald die ersten Kranichgruppen über den Bäumen, die in mehreren Reihen das Schlafgebiet praktisch abriegeln. Niemand darf zur alljährlichen Zugzeit vom 19. September bis zum 30. November da ohne Erlaubnis hinein – zum Schutz der majestätischen Vögel, die mit ihren Jungen eine weite Reise hinter sich haben und meist noch einige hundert oder tausend Kilometer nach Südwesten weiterfliegen. Auch im Frühjahr, vom 1. März bis zum 15. April, darf das Schutzgebiet nicht betreten werden.
Im Morgennebel
Kraniche verlassen bei jedem Wetter frühmorgens ihre Schlafplätze und steuern vor allem die umliegenden Maisfelder an, wo sie fressen, was die Erntemaschinen „übersehen“ haben.¹ Das können einzelne Körner oder zerstückelte Maiskolben sein. Aber sie verschmähen auch frische Saat, Kartoffeln, andere Knollen und Wurzeln sowie diverse Insekten nicht. Selbst eine unvorsichtige Maus oder ein Frosch wandert schon mal in den Kranichmagen.
Gezählt wird einmal die Woche – außer wenn der Nebel so dicht ist, dass die Vögel unsichtbar sind. Logisch!
Wir standen hier an diesem Standort schon bei Eis und Schnee, haben uns die Hände abgefroren und vor allem bei starkem Regen im PKW Schutz gesucht,
sagt Hubert Plomplun, der seit über zehn Jahren mit einem Freund die östlich abfliegenden Kraniche erfasst. Er ist einer der Senioren unter den ehrenamtlichen Zählern und freut sich, dass immer mehr junge Leute an der Bestandsaufnahme teilnehmen.
Beim morgendliche Abflug der Vögel besticht oft eine zarte, traumhafte Atmosphäre – gerade bei Bodennebel, wenn die dunklen Silouetten der Vögel am Himmel entlang ziehen und ihre lautschallenden Rufe von allen Seiten ertönen. Das ist so ganz anders als bei Sonnenuntergang, wenn die tief stehende Sonne die Kraniche von unten anstrahlt und förmlich aufleuchten lässt.
Die Kraniche fliegen entweder in kleineren Familientrupps, zusammengesetzt aus Mutter, Vater und ein oder zwei Kindern, zu den Nahrungsflächen oder in größeren Verbänden von meist 20 bis 30 Vögeln. An unserem Standort war der größte Trupp gut 70 Individuen stark.
Kraniche sind vergleichsweise gut zu zählen, weil sie meist ruhig und stetig fliegen und gewissermaßen sauber aufgereiht unterwegs sind. Auch wenn sich die Gruppe neu formiert, einige Vögel dazu kommen oder ein Paar eine andere Richtung einschlägt, bleiben die Individuen dennoch gut sortiert. Es gibt kein verwirrendes Durcheinander.
Erfasst werden möglichst alle Kraniche, die einen bestimmten Landschaftssektor – markiert durch Baumreihen, Gräben oder Straßen – überfliegen. Und während ein Beobachter mit dem Fernglas vor Augen zählt, füllt ein anderer auf gedämpften Zuruf die vorbereitete Liste aus.
Mit Sonnenaufgang
In einer feuchten Niederung wie dem Rhinluch den Kranichen beim Aufstehen zuzuschauen und ihnen zuzuhören, ist ein besonderes Ereignis. Und ihre Rufe, mit denen sie Kontakt halten und warnen, elektrisieren mich jedes Jahr wieder. Dazu müssen sie gar nicht sichtbar sein.
Für manche ist der morgendliche Abflug ein eindrucksvolleres Erlebnis als ein gelungenes Konzert in der Berliner Philharmonie oder eine Kunstaustellung im Potsdamer Barberini. Doch das eine lässt sich mit dem anderen wohl einfach nicht vergleichen.
Dieser Sonnenaufgang im Rhinluch, einer feuchten Endmoränenlandschaft, untermalt von Kranichrufen, ist jedenfalls im ursprünglichen Wortsinn einfach „Wunder-voll”.
Als die Sonne höher stand, wurden nicht nur die Schatten länger, sondern die Kraniche gewannen auch an Farbe und Kontur. Die Jungvögel aus diesem Jahr, erkennbar an ihren braunen Köpfen, ließen sich im Flug gut von den Altvögeln unterscheiden. – Typischerweise fliegen die Kinder zwischen ihren sehr sorgsamen Eltern.
Manchmal machen sich die Jungvögel mit zarten, hellen Rufen bemerkbar. Viel häufiger sind die lauten Kontaktrufe der Altvögel zu hören. Und hin und wieder wird gewarnt.
Der Graue Kranich ist ein scheuer Vogel. Mit Menschen hat er schlechte Erfahrungen gemacht. In manchen Regionen wird er noch immer geschossen, in anderen – wie bei uns – durch Warnschüsse nicht nur von frisch eingesäten Äckern, sondern auch von abgeernteten Feldern vertrieben.
Kein Wunder, dass die Kraniche auch auf die Zähler, die sich kaum bewegten, aber lange Schatten warfen, mit Vorsicht reagierten. Und zwar so:
Kranichtrupps, die zunächst direkt auf unseren Zählstandort zuflogen, wurden immer irgendwann skeptisch und bogen nach links oder rechts ab. Manchmal teilte sich die Formation, untermalt von einem lauten Rufkonzert.
Im folgenden Videoausschnitt schwenken die Vögel nach links ab. Im Hintergrund hört man die Zähler.
Das Zählergebnis
Nachdem die ersten Trupps vom Schlafplatz losgeflogen waren, kamen neue in immer kürzeren Abständen. Irgendwann verebbten die Abflüge und erlaubten den Zählern eine Verschnaufpause. Manchmal folgt auf die erste Welle, eine zweite. Aber an diesem Morgen schwappte über unseren Standort keine weitere Welle hinweg. Es kamen nur noch kleine Gruppen.
Nach etwa eineinhalb Stunden war das Schauspiel vorüber. Die letzten Kraniche, die wir registrierten, flogen seitlich an uns vorbei, über eine Baumgruppe hinweg und zielstrebig ihren Nahrungsflächen in Richtung Kremmen zu.
Das Zählergebnis an diesem Standort, der etwas abseits der Hauptflugschneise liegt, konnte sich sehen lassen:
1.665 Kraniche waren am ersten Zähltag im September 2020 an uns vorbei oder auch mal über uns hinweg geflogen.
Nun ging es zurück nach Linum, um in der Naturschutzstation die Ergebnisse aller Zählgruppen zusammen zu tragen.
Um es kurz zu machen: Mindestens 20.301 Kraniche hatten am 22. September den Schlafplatz bei Linum genutzt. Das berichtete Helga Müller-Wensky, Betreuerin des Kranichrastplatzes bei Linum, als sich die „Zählgemeinde“ bei Kaffee und belegten Brötchen noch über Ringablesungen und andere Beobachtungen austauschten – im Garten und unter strenger Beachtung der Coronavorschriften.
Warum Kraniche zählen?
Wer sich fragt, was die ganze Zählerei soll, muss sich nur vor Augen halten, wie trocken die letzten Sommer in Brandenburg waren. Da fällt der Wasserstand auch im Rhinluch, und für die Kraniche, die nachts im Wasser stehen möchten um vor Fuchs & Co sicher zu sein, geht Fläche für Schlafplätze verloren.
Und die Art der Landwirtschaft wirkt sich schießlich darauf aus, ob die Vögel an ihrem Rastplatz satt werden. Können sie hier nicht genügend auftanken, kommen sie womöglich nicht so zahlreich wieder.
Die Kranichplatzbetreurin fasst den Sinn des lokalen Monitorings so zusammen:
Die Ergebnisse der Zählungen in Linum sind für vogelkundige Besucher und Touristen während der Kranichsaison interessant. Für Kranichexperten werden die Zahlen der verschiedenen Rastplätze in Deutschland ins Internet gestellt. Die Daten geben den Ornithologen Aufschluss über das Zugverhalten der Vögel sowie über eventuelle Veränderungen ihrer Zugrouten und der Dauer von Rastzeiten. Umweltbedingungen wie etwa große Trockenheit oder anhaltende Niederschläge, aber auch die Bewirtschaftung von Agrarland beeinflussen das Brut- und Rastverhalten der sogenannten Vögel des Glücks. Anhand der Zählergebnisse fallen Veränderungen in der Rastpopulation auf und können analysiert werden.
Frau Müller-Wensky managt nicht nur die Zählungen, an denen außer dem Landschaftsförderverein Oberes Rhinluch auch die Storchenschmiede des NABU beteiligt ist. Sie organisiert auch geführte Touren beim abendlichen Einflug und hält Vorträge über das Kranichleben.²
Auf der Webseite des Landschaftsfördervereins stehen übrigens die Zähldaten für die Kranichschlafplätze bei Linum seit 2009. Es rasteten eine Woche später hier schon 40.060 Vögel. Und die Daten für die wesentlichen Rastplätze in Europa stehen in Französisch und Englisch auf der LPO-Webseite.³
¹ Rund 150 Gramm Nahrung braucht ein Kranich am Tag.
² Außer dem Landschaftsförderverein bietet auch der NABU geführte Touren und Infoveranstaltungen zu den Kranichen an.
³ LPO = Ligue pour la Protéction des Oiseaux
Rückblick: Kranichzählung in Linum
Dass in Linum so viele Ehrenamtliche im Herbst Kraniche zählen, ist kein Zufall. Hört man den Kranichbegeisterten vor Ort zu, dann liegt das vor allem an Ekkehard Hinke. Er hat sich in Linum – wo er aufwuchs – jahrelang für die Kranichzählung engagiert. Und in der Alten Schule, in der er einst die Schulbank drückte und die „Zählgemeinde” sich trifft, befindet sich heute die Naturschutzstation vom Land Brandenburg.
Zwar starb der „Pragmatiker im Naturschutz“ 2017, aber mit seinem Engagement hat er den Kranichschutz im Rhinluch geprägt und offenbar unzählige Menschen für die rastenden Vögel begeistert.
Auch Konflikte mit Landwirten vor Ort, die sich mal über die hungrigen Kraniche ärgern, mal über die Ornis und andere Schaulustigen aus Berlin und von weit her, konnte er beilegen. So hat er unter anderem für Ablenkfütterungen gesorgt, damit die Vögel möglichst die neue Saat nicht von den Äckern picken.
Grauer Kranich | Grue cendrée | Common crane | Grus grus
Liebe Kranichbegeisterte,
danke für eure freundlichen Kommentare. In dieser Woche wurden im Rhinluch bereits über 60.000 Kraniche gezählt. Die europaweiten Daten stehen hier: http://www.grus-grus.eu (https://champagne-ardenne.lpo.fr/grue-cendree/grus/rhin-havelluch)
Liebe Elke,
wunderschön die Bilder, die wir hier wieder zu sehen bekommen.
Auch für mich sind die Stimmen und Formationen der Kraniche immer ein besonderes Erlebnis.
Im Herbst ziehen hier normalerweise viele Kraniche über den Donnersbergkreis.
Manchmal bei der Gartenarbeit oder beim Spazieren mit dem Hund, höre ich das Herannahen kleinerer oder größerer Trupps. Es ist immer eine Freude.
Vor ein paar Jahren ging ich einmal spät mit unserem Hund vor das Haus und hörte ein lautes Durcheinandertröten, ganz nah im Dunkeln. Das war sehr aufregend. Ich vermute, dass ein größerer Trupp in der Nähe auf einem Feld gelandet war. Es war schon sehr kalt in dieser Nacht.
Letztes Jahr im Herbst konnte man nur wenige beobachten. Das wurde vom Nabu an die Zeitungen weitergegeben. Denn auch bei uns werden fleißig Beobachtungen an die örtliche Nabu-Kreisgruppe gemeldet.
Im Wochenblatt war zu lesen: „ Zehntausende Kraniche waren am Vormittag vom Sammelplatz Linum bei Berlin aufgebrochen. Warum sie bei ihrem Flug nach Süden die Kranichzugstraße Donnersberg so links liegen ließen, kann nicht gesagt werden.“
Das war ja mal wieder faszinierend, was Du über die Kranichzählerei berichtet hast, liebe Elke. Denn das wusste bisher ja keineswegs Marlies.