Die Alpendohle ist ein faszinierender Vogel. Klug und äußerst lernfähig wie andere Rabenvögel auch, aber zusätzlich lebt sie in einem extremen Lebensraum. Im Hochgebirge, wo die Winter eiskalt sind und oft eine Schneeschicht die Nahrungsflächen der Vögel überdeckt. Das treibt Alpendohlen schon seit langem tagsüber in die Täler, und so haben sie sich immer mehr an Menschen gewöhnt. Mittlerweile sitzen sie bei uns mit am Tisch.
In großen Höhen
Wie die nah verwandte Alpenkrähe, mag die Alpendohle die Höhe und ein frisches Klima:
Ihr Lebensraum reicht von alpinen Gebieten im Atlasgebirge Marokkos, über die Pyrenäen und die Alpen, osteuropäische Gebirgszüge und dem Kaukasus bis zu den hohen zentralasiatischen Gebirgen und dem Himalaya.
Üblicherweise liegen die Brutplätze der Vögel zwischen 2000 und 3300 m. Auch außerhalb der Brutzeit schlafen sie dort in Felsnischen, wo sie vor allem vor kaltem Wind geschützt sind.
Alpendohlen sind etwas kleiner als Alpenkrähen. Zu den auffälligsten Unterschieden gehört, dass der Dohlenschnabel gelb ist, während die Alpenkrähe einen roten Schnabel hat. Außerdem ist dieser etwas länger und stärker gebogen. Das veranschaulicht diese Grafik aus Naumann, Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas. (1901, 3. Aufl., Bd. 4, Tafel 4)
Wer in den Alpen unterwegs ist und nicht sicher erkennt, welche Art über ihm am Himmel fliegt, kann von einer Alpendohle ausgehen. Denn die Zahl der Alpenkrähen ist gering geworden. Als Brutvogel ist die Art – speziell in den Ostalpen – nicht mehr existent. Darum wird überlegt, sie dort gezielt wieder anzusiedeln.¹
Im Kaukasus
Mir begegneten Alpenkrähen 2020 im Kaukasus, und zwar in Georgien an der Georgischen Heerstraße, auf der sich unendlich viele LKW und auch PKW durch das Gebirge schlängeln. Nahrungsreste und anderer Abfall hatten die Vögel an den Straßenrand gelockt.
Auch ein Trupp gelbschnäbliger Alpendohlen überraschte mich nahe der Grenze zu Russland. Sie vollführten in den leichten Aufwinden am Fels geradezu spielerisch allerlei raffinierte Flugmanöver.
Alpendohlen in den Alpen
Aber niemand muss bis in den Kaukasus fahren, um Alpendohlen zu beobachten. Es reicht zum Beispiel ein Besuch der Zugspitze oder des Wendelsteins, um sie zu sehen.
Wer sich in den Alpen etwa in einer Skihütte oder im Sommer an einer Jausenstation eine Mahlzeit gönnt, kann mit ihnen rechnen.
Denn die Vögel haben sich an Menschen gewöhnt, schnappen sich längst auch Pommes frites, Nudeln oder Käse vom Teller, wenn sie sich sicher fühlen.
Ich hatte im Herbst dieses Erlebnis am Tegelberg, nahe Füssen, wo an der Bergstation der Seilbahn zwei Gaststätten zu einer Pause einladen und Schloss Neuschwanstein nicht weit ist. Während hier auf über 1800 m Höhe auf der einen Seite Drachenflieger ins Allgäu hinabschweben, segeln auf der anderen Seite Alpendohlen durch die Bergwelt der Ammergauer Alpen.
Alpendohlen: Segelfliegen in den Ammergauer Alpen
Wenn es den schwarz gefiederten Vögeln gefällt, landen sie auf einem der Sonnenschirme oder dem Holzgeländer und inspizieren die Lage: Wo liegt ein schmackhafter Rest auf einem Teller? Ist etwas Leckeres auf den Boden gefallen? Wie gut ist es erreichbar? Geht es zu Fuß, mit großen Schritten oder mit ein paar Hüpfern? Oder sind ein paar Flügelschläge erfolgversprechender?
Als Verhaltensbiologin würde ich zu gerne wissen, was in den Vögeln vor sich geht. Was denken, was planen sie? Jedenfalls wirken sie in dem Kontext der Jausenstation höchst konzentriert, sind ständig auf der Hut. Immer wieder wechseln sie den Platz, schauen herum, ziehen blitzschnell ihre Nickhaut übers Auge – ein Hinweis, dass sie nervös sind.
Wenn Gäste von ihrem Tisch aufgestanden sind, verlassen die Vögel sofort ihren Ausguck, ihre Warte, und kommen angeflogen, um deren Teller zu inspizieren.
Tagsüber im Tal
Dass Alpendohlen sich an unseren Tischen niederlassen, ist nicht allzu verwunderlich, denn sie gelten seit langem als „Kulturfolger”. Das heißt, sie folgen dem Menschen in von ihm geschaffene Landschaften. Das können Felder oder Dörfer sein, längst aber auch kleine und große Städte.
Im Handbuch der Vögel Mitteleuropas² lese ich, es sei schon um 1800 beschrieben worden, dass Alpendohlen
im Winter in Scharen in die bewohnten Täler herabkommen und abends jeweils wieder in die Berge zurückfliegen,
Das heißt zur Futtersuche pendeln sie zwischen oben und unten. Heute weiß man, dass sie täglich von Höhen über 2000 m auf Höhen von 500 bis 1700 m fliegen. Der Fachbegriff dafür ist „Vertikalwanderung”. Mit diesen Flügen, die oft 5 – 20 km ausmachen, kommen sie durch die nahrungsarme Zeit. Denn in den Tälern finden sie
im Spätherbst auf Bäumen das Fruchtfleisch aus (noch) nicht geernteten Äpfeln und pflücken an Weinstöcken und Sträuchern verbliebene Beeren.
Zudem spürt die Alpendohle dort, wo Menschen wohnen, überwinternde Insekten in Mauerfugen und im Gebälk auf, auch im Mist und in den Abfällen. – Wie wenig ängstlich, wie aufmerksam und geschickt manch eine Alpendohle ist, lässt der folgende Videoausschnitt erahnen:
Die Allesfresser
Während sich die Alpendohle ab dem Herbst in erster Linie vegetarisch ernährt, also von Früchten wie Äpfeln und Birnen, von Wacholder, Heidel-, Preisel- und Vogelbeere, von Mehl- und Maulbeere, von Holunder, Himbeere, Heckenrose usw., verlegt sie sich am Ende des Winters auf animalische Kost. Sie stochert und gräbt nach Insekten, sobald der Schnee abtaut.²
Am Rand der schmilzenden Schneefelder findet sie nun reichlich Nahrung: Wiesenschnaken, Spinnen, Regenwürmer und Gehäuseschnecken. Später im Jahr kommen Heuschrecken, die Maulwurfsgrille, Käfer und Ameisen hinzu. Aber auch kleine Wirbeltiere wie Frösche und Eidechsen, Vogeleier, Jungvögel, und sogar Mäuse werden verspeist.²
Alpendohlen sind wie Nebelkrähen, Dohlen und andere Rabenvögel keine Nahrungsspezialisten, sondern fressen alles Mögliche. In der Biologie gelten sie als „Allesfresser“, d.h. sie sind omnivor (von lateinisch omnis „alles“ und vorare „fressen“).
Zu solchen Lebensgewohnheiten passt, dass wir Alpendohlen beim Wandern in alpinen Regionen – ihrem angestammten Lebensraum – eher selten und meist nur aus der Ferne sehen.
Häufiger und aus der Nähe begegnen sie uns dort, wo wir in Tal- und Bergstationen für eine große oder kleine Mahlzeit Platz nehmen.
Serviert wird den Alpendohlen hier allerdings nichts – auch nicht bei eindeutiger Tischnummer.
¹ Vögel der Alpen, Der Falke, Sonderheft, 2022, S. 64-68
2 Urs N. Glutz von Boltzheim, Handbuch der Vögel Mitteleuropas, Aula-Verlag, Bd. 13.3, S. 1572 ff
Alpendohle | Chocard des Alpes | Alpine Chough | Pyrrhocorax graculus
Wie immer sehr schön geschrieben!
Merci!
Wie schön! Diese Dohlen sind fester Bestandteil meiner Erinnerungen an die herrlichen Bergsteigerjahre (vor mehr als 60 Jahren) in den Ostalpen. Ihre Rufe und ihr scheinbar müheloses Auf und Ab vor den Wänden, über die wir nur mühsam vorankamen. Und auf den Gipfeln sind sie gerne auf unseren Rucksäcken herumgestiegen, wenn wir die 2-3 m entfernt abgelegt hatten.