Kluge Abräumer

„Da sind sicher ein paar Krumen auf dem Teller.“

Dass hier eine Dohle auf dem noch gedeckten Tisch sitzt, ist kein Zufall. Denn Dohlen gehören zu den Tieren, die wir in der Biologie als Kulturfolger bezeichnen. Mit anderen Worten, sie nutzen den Lebensraum und die Lebensweise von uns Menschen, können in unserer Nähe ihre Bedürfnisse erfüllen, profitieren von unseren Gewohnheiten.

„Zum Trocknen nach einem Regenguss eignen sich auch Fahrradständer.“

Beispiele dafür, wie sie sich in unserer Kultur einnischen, gibt es viele – nicht nur Fahrradständer, die einen Ast ersetzen, zählen dazu. Dohlen finden in Ortschaften auch passende Nistmöglichkeiten. Denn die Höhlenbrüter, die ursprünglich ihre Jungen in Felsnischen oder in Baumhöhlen großzogen, können in Kirchtürmen, Ruinen oder Schornsteinen sehr geeignete Brutplätze auskundschaften.

Für die Nahrung der Dohlen, die selbst etwa 230 Gramm auf die Waage bringen, gilt Ähnliches:

In ländlicher Umgebung sieht man die Vögel auch heute noch auf Äckern und Wiesen, wo sie nach allerlei Insekten, Raupen, Schnecken, Käfern usw. suchen.

Zudem fressen sie Getreidekörner, Früchte wie Kirschen und Äpfel, Vogelbeeren…

Breites Nahrungsspektrum

Aber schon der großartige Ornithologe und Autor Johann F. Naumann berichtete, dass sie sich gerne vom Ackersmann, also dem Bauern, mit Butterbrot verwöhnen lassen – wenn er ihnen die Krumen zuwirft – und dass sie dort, wo sie Schlachtabfälle entdecken, gerne und regelmäßig nach Fressbarem suchen. (Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas, 1887-1905, 3. Aufl., Bd. IV, S. 82 ff.)

Schlachtabfälle dürfen bei uns nicht mehr offen herumliegen. Aber Dohlen sind äußerst lern- und anpassungsfähig. Ihr Nahrungsspektrum ist weit gefächert. Und wo nichts liegenbleibt, fällt vielleicht etwas herunter.

Mit Staunen habe ich immer wieder beobachtet, dass Dohlen auf den Ostfriesischen Inseln abends die Strandburgen der Badegäste nach Schmackhaften absuchen, sobald die Menschen sich auf den Heimweg begeben haben. Flugs tauchen die Dohlen auf. Sie finden mal ein Stückchen Brot, mal einen Happen Eiswaffel oder einen Bratwurstrest.

Sie scannen das Umfeld vom Strandkorb aus,
… kontrollieren den Boden rund um den Strandkorb herum,
… gehen im Sand den Spuren von Lebensmittelresten nach.

Nahrung ergattern und festhalten

Auf einer Sommereise durch Schweden haben mich die Dohlen von Öland gleich mehrfach fasziniert. Sie sind weitaus vorsichtiger als die Sperlinge, die sich ja durchaus mutig an unseren Tischen bedienen.

Doch sobald Gäste ihre Tische verlassen haben und solange kein Personal in Sicht ist, holen sich die klugen Krähenvögel fix allerlei Reste.

Zuvor sitzen sie schon erwartungsvoll und ausdauernd über den Tischen in den Startlöchern.

So wie dieser Vogel, der vom Sonnenschutz aus die Gäste im Blick hat.

Aber noch sind alle Tische besetzt. Und es heißt Abwarten … Wählerisch sind Dohlen definitiv nicht: Gurkenscheiben und grüner Salat verschwinden in ihrem Schnabel ebenso wie Pommes und Fischstückchen.

Und was wir bei anderen Krähenvögeln ebenfalls beobachten, machen die Dohlen – übrigens unsere kleinsten „Raben“ – auch: Was sie ergattert haben, das halten sie mit den Zehen fest, fressen es vor Ort oder fliegen damit an einen Platz, wo sie von Artgenossen nicht behelligt werden.

„Meins!“
„Mal kosten.“
„Lieber in Sicherheit bringen.“

Da Dohlen in der Regel in größeren oder kleineren Gruppen unterwegs sind, haben sie durchaus Stress mit ihrer eigenen Verwandtschaft oder mit guten Nachbarn, die ebenfalls ständig hungrig sind.

Soziale Tiere – sozialer Stress

Dohlen leben in streng hierarchisch organisierten Gruppen, bei denen in der Rangordnung ganz oben ein – auch in unseren Augen – meist wirklich imposantes Männchen steht. Und das Weibchen an seiner Seite teilt gewissermaßen diesen Rang.

Altvogel (= adulter Vogel) mit den Artkennzeichen einer Dohle

Das Dohlenmännchen auf dem Foto zeigt uns die Kennzeichen dieser Art und anderer Krähen beziehugnsweise Corviden, also Vögeln aus der Familie Corvidae: Typisch für die meisten von ihnen sind die schwarz-graue Färbung des Gefieders und ein kräftiger Schnabel.¹ Dazu kommen die Borstenfedern über dem Schnabelansatz, die die Nasenlöcher bedecken.

Für die Dohlen ist der graue Nacken kennzeichnend. Grau getönt sind auch die Ohrdecken, also jene Federchen, die schützend das Ohr umgeben. Und dass es sich hier um einen adulten Vogel handelt, zeigt sich nicht nur am Gefieder, sondern auch am Auge. „Perlfarben“ nennt Johann F. Naumann die Iris (Seite 80). Das passt und klingt viel schöner als „milchig weiß”, wie es in manchen Bestimmugsbüchern steht.

Bei jungen Vögeln ist das Gefieder bräunlich, und auch das Auge ist vergleichsweise matt gefärbt. Denn die helle Iris hat zunächst eine bräunliche Fleckung.

Jungvogel (= subadulter Vogel) im matten Gefieder

Wesentliche Erkenntnisse zum Sozialverhalten der Dohlen hat Konrad Lorenz, einer der maßgeblichen Verhaltensforscher und Nobelpreisträger, geliefert. Nachdem er eine junge Dohle – von ihm Tschok getauft – aus einer Laune heraus gekauft und von Hand aufgezogen hatte, waren Dohlen Ausgangpunkt vieler seiner Forschungsfragen und Krähenvögel lebenslang seine Freunde.²

Konrad Lorenz und die Dohlen

Ich habe dazu jetzt erneut das Kapitel Die zeitlosen Gesellen in seinem populärwissenschaftlichen Buch Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen (Wien, 1963, 24.-29.Auflage) gelesen. Aus dem las uns übrigens unsere strenge Biologielehrerin in der letzten Stunde vor den Ferien vor.

Und auch wenn wir heute manches anders formulieren würden, das Buch Krähen von Cord Riechelmann ist dafür ein Beispiel, hat Lorenz seine Beobachtungen lesenswert und unterhaltsam zusammengefasst. Ein kleine Kostprobe, Seite 53

Es lag wohl an meiner Nachahmung des Dohlenrufes, daß Tschok mich sehr bald allen anderen Menschen vorzog. Fliegend begleitete er mich auf weiten Wanderungen, ja selbst auf Radtouren, wie ein treuer Hund.

Über die Vorteile, als Verhaltensbiologe mit handaufgezogenen Tieren zu arbeiten, schreibt er an gleicher Stelle

Man kann mit dem Vogel ins Freie gehen, kann seinen Flug, seinen Nahrungserwerb, kurz, alle seine Verhaltensweisen in völlig natürlicher Umgebung, uneingeengt vom Gitter des Käfigs und doch aus nächster Nähe, studieren. Ich glaube nicht, dass ich von einem anderen Tier so viel und so Wesentliches gelernt habe wie im Sommer 1926 von Tschok.

Menschen und andere Feinde

Dohlen leben so wie Saatkrähen und Rabenkrähen – und einige andere Corviden –, in Kolonien. Beide Arten kommen übrigens oft vergesellschaftet mit Dohlen vor.

Auffliegende Dohlen aus einer Kolonie, die sich in der Baumkrone installiert hatte.

Auf dem Land ist die Krähenverwandtschaft, zu der auch Elster und Eichelhäher gehören, nach wie vor unbeliebt.

Aber sie alle gehören zu den Singvögeln. Und das bedeutet: Sie sind geschützt.³

Doch es gibt andere Feinde. Kleinere und größere Greifvögel, aber auch Eulen gehören zu den Prädatoren.

Ein spezieller Feind der Dohlen ist der Sperber, für den Ringel- und Haustauben als Beute eher zu groß sind. In Kolonien mit Saat- und Rabenkrähen sind Dohlen vermutlich vor seinen Angriffen geschützt. Dennoch ist der wendige Greif auch dann hin und wieder erfolgreich.

Im Nacken etwas gerupft: Vermutlich hat diese Dohle unliebsamen Kontakt mit einem Sperber gehabt, ist ihm aber entkommen.

 

¹ Farbenfreudig ist in dieser Familie nur der Eichelhäher.
² Konrad Lorenz: Beiträge zur Ethologie sozialer Corviden, Journal für Ornithologie, 1932, Bd. 79, S. 67-127
³ Der Bestand an Dohlen ist in Deutschland offenbar stabil, verbreitet sind sie vor allem im Nordwesten. Regional – wie etwa in Berlin — sind sie verschwunden.

Dohle | Choucas des tours | Western Jackdaw | Coleus monedula



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11 Kommentare zu “Kluge Abräumer

  1. Letztes Jahr hatten wir bei uns im Park wirklich viele Dohlen, davon auch welche beringt. Es sind schöne Vogel, finde ich. Und übermäßig laut waren die auch nicht. Im Gegensatz zu einer Saatkrähen Kolonie, die ein ohrenbetäubendes Konzert veranstaltete. Dieses Jahr gibt es hier zwar auch Dohlen, aber nicht so viele und mehr verteilt. Bei den Enten am Wasser sieht’s mau aus. Die gab’s dafür letztes Jahr reichlich. Der Bestand an Meisen hat seit letztem Jahr ordentlich aufgeholt, der der Amseln dito.

    1. Warum aber fast keine Lachmöwen mehr zu sehen sind, verwundert mich. Was ist nur bei den Wasservögeln los?
      Ach so, und ich hab mehrfach Grünfinken gesehen. Das war schon lange nicht mehr der Fall gewesen.

    2. Dieses Auf und Ab bei dem Bestandszahlen in einem kleinen Habitat sind nicht ungewöhnlich – aber oft eben auch schwer zu erklären. Was mich wirklich freut, ist Ihre Beobachtung, dass sich der Bestand an Grünfinken offenbar erholt. Vielleicht schreiben Sie noch, aus welcher Ecke in Deutschland Sie berichten oder Du berichtest.
      In Berlin sind die Grünfinken ja rar. Und Dohlen leben hier gar nicht mehr. Ich hoffe, sie kehren irgendwann zurück.

  2. Ein Faible für die Dohlen hatte übrigens auch Martin Luther. Davon berichtete Markus Hofmann hier: https://www.riffreporter.de/de/umwelt/flugbegleiter-luther-dohlen
    Und ganz wunderbar ist ein Text von Carl-Albrecht von Treuenfels, der mit dem passenden Titel „Das Mönchlein im Kirchturm“ in FAZ (15.10.2011) erschienen ist. Die Dohle war damals gerade zum „Vogel des Jahres“ gekürt worden. Man bekommt ihn via FAZ-Archiv für 3€.

  3. Natürlich sind Dohlen schlaue und interessante Vögel aber genau das ist auch das Problem. Ich habe selbst beobachtet, wie sie zu viert ein Kiebitzpärchen überlistet haben und ihre erst tagealten Kücken gestohlen haben. Die Jungvögel vom Vorjahr lenkten die Kiebitzeltern ab und die Altvögel schnappten sich die kleinen Wollknäule und flogen davon. Bei uns Im Münsterland leben Schwärme von hunderten Dohlen. Diese terrorisieren die gesamte Singvogelpopulation mit ausgeräuberten Bruten. Dabei sitzen sie in einiger Entfernung auf einem Aussichtspunkt und beobachten die fütternden Amseln, Heckenbraunellen, Gartenrotschwänze, Rotkehlchen und Zaunkönige und erkunden so die Standorte ihrer Nester und räubern sie später aus. Das Zaunkönig – und Rotkehlpärchen sind deshalb schon dazu übergegangen und nisten in unmittelbarer Nähe zum Menschen auf unserer Terasse. Der größte Blödsinn war die Dohlen aus der Bejagung herauszunehmen, durch einen falsch verstandenen Artenschutz. Dasselbe gilt auch für verwilderte Katzen.

    1. @ Michael Lukassen: Ich kann Ihren Ärger gut nachempfinden, denn ich muss auch manchmal mit ansehen, wie Nebelkrähen die Nestjungen meiner Haussperlinge geradezu aus dem Nest ziehen – und vertreibe sie… Wir müssen aber zweierlei bedenken: Die Zahl der Dohlen ist hierzulande keineswegs in den letzten Jahren nach oben geschnellt. Und viele kleinere Singvögel machen nicht nur eine sondern zwei Bruten pro Jahr, gestohlene Eier können sie teilweise nachlegen und manchmal – wie bei den Meisen – ist die Größe des Geleges beträchtlich. Biologisch macht das Sinn, denn die Räuber (Prädatoren) gab es schon immer. Dazu kann ich auch das herzzereißende Buch über die Heckenbraunelle empfehlen, das ich mal besprochen habe: https://fluegelschlag-birding.de/vogelbuch/im-herzen-des-tals/
      Generell ist ja heute das weitaus größere Problem, dass den kleinen Singvögeln das Insekenfutter ausgeht, weil die Wiesen, Äcker und naturnahen Gärten fehlen, in denen sich Insekten vermehren können. Und gerade die werden für den Vogel-Nachwuchs gebraucht.
      Ich stimme ihnen natürlich zu, dass auch die Katzen ein Problem sind.
      Viele Grüße und danke für den wichtigen Kommentar
      Elke Brüser

  4. Liebe Elke, woher hast Du gewusst, dass ich mich ausgerechnet am just vergangenen Wochenende gefragt habe, wovon Krähen und Dohlen sich eigentlich ernähren. Ich war bei meiner Tochter in Basel -. mitten in der Stadt unweit des Bahnhofs – und schon im Morgengrauen hörte ich ungeheuer lautes Gekrächze, das den ganzen Tag über anhielt. Alle Bäume des nahen Parks waren voll mit Dohlen oder Krähen und ihren Nestern und da habe ich eben überlegt, wie diese vielen Vögel im Winter in der Stadt wohl alle satt werden. Meine Tochter bestätigte, was Du schreibst: Die Vögel kommen sogar auf den Balkon und picken die dort vorübergehend gelagerten Müllsäcke auf. Die Krähen mit ihrem Lärm sind dort so eine Plage, dass es Menschen gibt, die aus diesem Grund dort wieder wegziehen. Vielen Dank also für Deinen Bericht und viele Grüße, Juliane

    1. Liebe Juliane,
      schön, dass wir uns bei dem Thema „getroffen“ haben. Und ja, eine Krähenkolonie ist wirklich laut, und es ist ein dauerndes Hin- und Herfliegen. Die Frage ist, wie nah daran man wohnt. Andererseits: Was manche Menschen an Verkehrslärm ertragen oder auch an Musikgedudel, wenn sie etwa in einem Modeshop arbeiten… Aber das ist natürlich eine persönliche Einstellungsache, wie welche Geräusche (Kinder, Frösche usw.) erlebt werden.
      Lass es dir gut gehen, Elke

  5. Vielen Dank für die vielen Informationen und die sehr schönen Bilder zu den Dohlen. Ich erinnere mich immer wieder gerne an die Dohlen, die uns im Skiurlaub in Gerlos täglich besucht haben. Wir haben eine Scheibe Brot zerrupft und auf das Balkongeländer vom Hotel verteilt. Sobald die Balkontüre zu war, kamen sie angeflogen und haben alles weggefuttert, was da war.

    Fasziniert war ich immer von dem eleganten Segelflug, mit dem sie jede Böe genutzt haben, um auf das Flügelschlagen verzichten zu können.

    Allerdings habe ich diese Bergdohlen deutlich größer in Erinnerung als andere Krähen oder Raben. Und da frage ich mich jetzt, ob das genetisch bedingt ist oder womöglich eine Folge der intensiven Mast durch Vögel liebende Skiläufer?

    1. Hallo Joachim oder gerne auch Herr Ehrich,
      über den Hinweis auf den schönen Segelflug der Dohlen habe ich mich sehr gefreut. Denn dafür sind sie wirklich berühmt. Sie nutzen sehr elegant die Windböen und sind äußerst wendig.
      Was die Größe der Vögel angeht, die sie beobachtet haben, da habe ich nun zwei Erklärungen im Angebot: Entweder sind sie wirklich gut durchgefüttert, oder es handelte sich um Alpenkrähen (langer roter Schnabel) oder um Alpendohlen (schmaler gelber Schnabel). Beide Arten sind größer als die „Flachlanddohlen“, über die ich schrieb. Und beide Arten kommen im Gebirge (Alpen, Pyrenäen, Kaukasus) vor. Sehr elegant fliegen tun sie auch!
      Viele Grüße

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