Um den Schilfrohrsänger zu beobachten, braucht es etwas Zeit. Wir müssen uns am Schilfrand gewissermaßen auf die Lauer legen, damit der kleine Vogel an einem Halm aufwärts klettert und sich sehen lässt. Denn normalerweise verschwindet er in den Tiefen des Schilfbestands, sobald Menschen sich nähern. Angelockt werden wir in der Regel von dem schönen Gesang des männlichen Rohrsängers.
Ich möchte von zwei Begegnungen mit dem Schilfrohrsänger berichten, bei denen ich zwar leider keine guten Tonaufnahmen machen konnte – zu weit war der Sänger entfernt –, aber unzweifelhaft singt er aus voller Brust. Das verrät sein geöffneter Schnabel.
Nützliche Feldkennzeichen
Wer an einem Schilfgürtel unterwegs ist, stößt dort nicht nur auf Schilfrohrsänger, sondern auf ähnlich aussehende Schwirle und auf weitere Rohrsänger. Um genau zu wissen, um welchen Vogel es sich handelt, müssen wir die jeweilige Art identifizieren können – auch aus der Ferne. Denn anders als manche Krähen, Enten oder Sperlinge kommen diese Schilfbewohner nicht von sich aus in unsere Nähe.
Beim Erkennen der Art helfen die sogenannten Feldkennzeichen, auch Feldornithologische Kennzeichen oder schlicht Kennzeichen genannt. Wenn wir in der Natur sind, also „im Feld“, machen sie es uns leichter, eine Vogelart zu bestimmen.
Manche Vögel sind sowieso gut zu identifizieren, etwa der Weißstorch, die Amsel oder die Blaumeise. Das liegt an einem auffälligen Federkleid, ihrem Verhalten, der Verbreitung im menschlichen Umfeld, einer speziellen Körperform oder auch daran, dass es in einer bestimmten Gegend keine weitere Vogelart gibt, die dieser zum Verwechseln ähnlichsieht. Schwierig ist die Vogelbestimmung, wenn regional und in demselben Biotop mehrere Arten vorkommen können, die sich äußerlich und im Verhalten ähneln. Genau das ist beim Schilfrohrsänger und bestimmten Verwandten durchaus der Fall.
Wer ist wer?
Rohrsänger sind kleine braune Vögelchen, die manchmal auch als LBB (Little brown birds) bezeichnet werden. Von der Schnabelspitze bis zur Schwanzspitze messen sie etwa 11,5 bis 15 cm. Nur eine Art fällt da heraus: Der Drosselrohrsänger, der bis zu 20 cm groß sein kann. Zu den kleinen Rohrsängern, die in Deutschland vorkommen, zählen der Schilfrohrsänger und der Seggenrohrsänger¹, der zierliche Teichrohrsänger und der Sumpfrohrsänger. Alle fünf Arten – also inklusive Drosselrohrsänger – leben dort, wo es feucht ist und mehr oder minder sumpfig, wo Schilf steht und Weidengewächse gedeihen.
Die Oberseite dieser eher unscheinbaren Arten ist braun und die Unterseite beige. Aber es gibt Unterschiede: Während Teichrohrsänger, Sumpfrohrsänger und Drosselrohrsänger oberseits weitgehend einheitlich braun gefärbt sind, zeichnen sich beim Schilf- und beim Seggenrohrsänger Streifen ab.
Diese beiden Arten lassen sich im Feld dennoch unterscheiden: Der Schilfrohrsänger hat einen beigefarbenen Überaugenstreif, also über dem Auge einen hellen Streifen.
Der Seggenrohrsänger hat diesen auch, aber er besitzt zusätzlich oben auf seinem Kopf einen hellen Scheitelstreif.
Für ornithologische Fans sind im überaus nützlichen Handbuch der Vögel Mitteleuropas² die wesentlichen Feldkennzeichen beider Arten detailliert nachzulesen – auf Seite 291 für den Schilfrohrsänger und auf Seite 252 für den Seggenrohrsänger.
SCHILFROHRSÄNGER
Feldkennzeichen. Ein gestreifter beige(oliv)brauner Rohrsänger mit braunem (undeutlich hell-dunkel gestricheltem) Scheitel, rahmfarbenem Überaugenstreif, diffus schwarzbraun gestreiftem Rücken (keine auffälligen über die ganze Länge des Rückens und bis zu den Spitzen der längsten Schulterfedern sich hinziehende Längsstreifen) …
SEGGENROHRSÄNGER
Feldkennzeichen. Neben dem Oberkopfmuster (zwei scharf abgesetzte dunkle zum Nacken hin breiter werdende Längsstreifen trennen den gelblichbeigen Scheitelmedianstreif von den ebenfalls hellen Überaugenstreifen) imponieren vor allem das kräftig und kontrastreich braun-graugelb (bis sandfarbene) und schwarz gestreifte Rückengefieder, die dunklen Steuerfedern mit den markant abgesetzten hellen Säumen …
Als Ergänzung vielleicht noch das: Weil sich Rohrsänger aufrecht an Halme, trockene Pflanzenstile oder Zweige klammern und dann im oberen Bereich gesanglich ihr Revier markieren, ist ihr Kopf meist gut sichtbar. Die Kopfzeichnung mit dem Überaugenstreif ist für die Bestimmung hilfreicher als andere Merkmale ihres Gefieders. Allerdings ist der Kopf – so wie auch andere Körperpartien – oft durch Schilfhalme verdeckt oder verschattet.
Der Schilfrohrsänger an der Warthe in Polen
Am Ufer der Warthe, die bei Küstrin in die Oder fließt, machte mich ein Birding-Kollege auf einen Schilfrohrsänger aufmerksam. Der Ornithologe saß fast unbeweglich auf einer Böschung und hatte den kleinen braunen Vogel wohl schon länger im Visier. Doch der zarte Sänger verschwand umgehend im Schilf, als ich mich vorsichtig dazu setzte. Zum Glück tauchte er schon bald wieder auf. Er kletterte in den oberen Bereich seiner Singwarte, schaute in die Ferne und … rauschte kurz darauf wieder hinab. Doch wie schon erwähnt: Warten hilft.
Er kam wieder nach oben und sang sogar ausgiebig. Darum mein Rat: Ein ruhiges Plätzchen suchen und abwarten.
Die Tonaufnahme ist zwar nicht vom Winde verweht, aber gründlich verrauscht. Schade.
Wer Glück hat, dem bietet der Schilfrohrsänger sogar einen Singflug. Aber dafür war ich vielleicht zu zeitig im Frühjahr im Nationalpark Wartemündung („Ujście Warty”) und im deutsch-polnischen Grenzgebiet unterwegs. Die Vögel waren Anfang Mai gerade erst aus Afrika zurückgekehrt. – Vielleicht war es dem kleinen Sänger schlichtweg zu windig.
Im Handbuch der Vögel Mitteleuropas² ist der Singflug schön beschrieben, Seite 334
Sie starten vom obersten Punkt der Singwarte zum Singflug …, steigen auf, fliegen während weniger Sekunden, bisweilen die Richtung ändernd, schmetterlingsartig mit weit gefächertem Schwanz und ausgebreiteten Flügeln, gleiten abwärts und landen im unteren Bereich der letzten oder einer benachbarten Singwarte.
Der Schilfrohrsänger nahe dem Kurischen Haff in Litauen
Am Kurischen Haff von Litauen, nahe einer beeindruckenden Beringungsstation für Zugvögel (Ventės ragas), begegnete mir der Schilfrohrsänger in einem geradezu klassischen Biotop. Ich möchte dazu den kenntnisreichen Ornithologen Johann F. Naumann zitieren, der seinen Leserinnen und Lesern schon vor weit über 100 Jahren in seinem vielbändigen Klassiker² anschaulich vermittelt hat, welchen Lebensraum diese Vogelart beansprucht, Seite 35
Nicht Wälder, sondern die Ufer der Gewässer und die Sümpfe bewohnt dieser Vogel. Wasser oder wenigstens nasser Boden dürfen an seinem Aufenthaltsorte nicht fehlen …
Und weiter
Auf hohen Bäumen sieht man den Schilfsänger nie, Kopfweiden sind die höchsten, welche er besteigt, selbst im Weidengesträuch und im Rohr* muss man ihn immer unterhalb suchen. Je näher er dem sumpfigen Boden sein kann, desto lieber ist es ihm …
Als Insektenfresser verbringt der Schilfrohrsänger den Winter nicht in Mitteluropa. Im November hat er längst das Weite gesucht. Der Weg des kleinen Langstreckenziehers ist sehr weit, denn sein Ziel sind feuchte Regionen jenseits der Sahara. Dort ist für ihn der Tisch gedeckt.
Erst Ende April kommt er zurück und beschert uns dann sicher wieder zauberhafte Eindrücke und Erinnerungen.
¹ Der Seggenrohrsänger brütet bei uns nicht mehr. Den letzten Nachweis gab es im Nationalpark Unteres Odertal 2014. Der Mensch hat hierzulande seinen Lebensraum weitgehend zerstört, insbesondere durch die Trockenlegung von Mooren. Das ist bei der Moorexpertin Franziska Tanneberger nachzulesen (Das Moor, dtv, 2023). Ich selbst habe den seltenen Rohrsänger im vorläufig noch moorreichen Belarus durch ein Spektiv beobachten können.
² Urs N. Glutz von Boltzheim (Hrsg.), Handbuch der Vögel Mitteleuropas, Aula-Verlag, Bd 12.1
³ Johann F. Naumann, Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas, 1887-1905, 3. Aufl., Bd. II
* Rohr, Schilfrohr und Schilf bezeichnen dasselbe Gras, botanisch ein Süßgras.
Schilfrohrsänger | Phragmite des joncs | Sedge Warbler | Acrocephalus schoenobaenus
Was für ein großartiger Beitrag wieder einmal! Ich habe viel gelernt, gelacht und den ganzen anderen Dreck vergessen. Ganz herzlichen Dank!
Ja, die Vögel verschaffen uns ein paar Lichtblicke. Sind allerdings auch nicht immer friedlich. Um so besser, dass du hier gelacht hast. Und schön, dass meine Erklärungen verständlich waren.