Im Oktober ist Kranich-Hochsaison, selbst in Berlin. Mal sieht man sie Gruppen am Himmel, mal hört man ihre Kontaktrufe von hoch oben. Tausende rasten an der Ostseeküste von Mecklenburg-Vorpommern, bei Linum in Brandenburg oder in der Diepholzer Moorniederung von Niedersachsen. In Schweden bekam ich in diesem Sommer nun einen ganz wundervollen Eindruck, als ich ein Kranichpaar auf einer saftigen Wiese entdeckte.
Bisher habe ich den Grauen Kranich (Grus grus) in der Tat meistens vor einem herbstlichen Hintergrund mit goldgelben Farben beobachtet, etwa zwischen Nauen und Linum. Dort fressen sie im Oktober auf den abgeernteten Maisfeldern übriggebliebenes Korn oder sammeln sich auf so genannten Ablenkungsflächen, wo Futter ausgestreut wird oder Felder nicht abgeernetet werden, damit die Zugvögel sich von bewirtschafteten Agrarflächen fernhalten. Einige Male sah ich Kraniche auch im Winter, denn nicht immer ziehen sie alle fort.
Immer wachsam
Aber Kraniche auf einer Sommerwiese, die die diesjährige Trockenheit recht gut überstanden hat, das ist noch mal etwas Anderes. Ein schönes Paar sah ich im August in Schweden – bei einem Ausflug nahe Öregrund, wo mir bereits eine Singschwan-Familie über den Weg gelaufen war.
Mit erhobenem Haupt stolziert der eine Partner durch das Ähren- und Blütenmeer. Auffällig ist der dunkle Federbusch des Kranichs, der nur die ausgewchsenen Tiere schmückt. Der Vogel ist zunächst sehr wachsam, als ich anhalte. Mit langem Hals beäugt er die Vogelbeobachterin im PKW. Wird der Hals noch stärker gestreckt, sind die Tiere übrigens erstaunliche 1.60 m groß.
Dazu erneut diese kleine Anmerkung: Kraniche halten Menschen sicherheitshalber auf Distanz, sie tolerieren nur Annäherungen von etwa 200 bis 300 m. Solange man im Auto sitzt, sind sie so nicht sonderlich beunruhigt. Aufmerksam sind sie auch dann, und es ist besser, das Fenster oder das Verdeck bereits geöffnet zu haben, wenn man mit Kranichen rechnet. Denn manchmal fliegen sie schon beim ersten fremden Geräusch auf und davon.
Als dieser Kranich sich an das geparkte Auto gewöhnt hatte, suchte er zwischen Ähren und gelben Korbblütlern – vermutlich eine Lattich-Art – weiter nach Nahrung.
Speiseplan eines Omnivoren
Was da so gut schmeckte, weiß ich nicht. Aber Hartwig Prange, der jahrzehntelang Kraniche in Ostdeutschland beobachtet hat, beschreibt in seinem fast 900-seitigem Wälzer Die Welt der Kraniche (MediaNatur.Verlag, Halle 2016, S. 384) das Nahrungsspektrum von Grus grus ausführlich:
Als pflanzliche Nahrung dienen Getreide (Mais, Weizen, Gerste, Roggen, Hafer, Reis) und Hülsenfrüchte (Bohnen, Erbsen, Kichererbsen) sowie Kartoffeln, Eicheln, Sojabohnen, Erdnüsse, Sonnenblumen- und Baumwollsamen, Oliven, Wurzeln und Knollen. Von stehendem Getreide beißen die Kraniche am Feldrand gelegentlich auch die Ähren ab, Wildkräuter werden durch den Schnabel gezogen. Die Nahrung besteht weiterhin aus Gemüse (Kohlarten, Möhren, Rettiche, auch Zwiebeln, und Spinat) und Beeren (Weintrauben, Blau-, Preisel- und anderen Beeren), seltener auch aus Blättern, frischen Trieben von Getreide, Raps, Klee, von Gramineen und Phragmites einschließlich zahlreicher Ackerkräuter.
Dieser Speiseplan ist definitiv vielfältig. Und dazu kommt noch allerlei tierische Nahrung, denn Kraniche sind „omnivor“, wie ExpertInnen sagen. Also keineswegs Vegetarier oder Veganer, sondern „Alles-Fresser“ (lat.: omnis/nes = jeder/alle und vorare = fressen). Prange nennt als animalische Kost
… Insekten und Larven, wie Spinnen, Grillen, Libellen und Gradflügler (…), weiterhin Käfer (…) Dipteren (…) Schmetterlingsraupen sowie Regenwürmer und Mollusken.
Als wäre das nicht genug, schnappen sie sich auch Fische, Frösche, Eidechsen, Mäuse und Spitzmäuse; manchmal machen sie auch vor Vogeleiern und Jungvögeln nicht Halt. Wer sich so vielfältig ernährt hat auch bei wechselnden Klima- und anderweitigen Lebensbedingungen gute Überlebenschancen, solange ihm flache Gewässer und abgeschiedene Moore für die Nacht und die Brut erhalten bleiben.
Während ich am Straßenrand in Schweden noch darüber nachdachte, welche Art von Nahrung diese Wiese bietet, hob der Kranich kurz seinen Kopf und fraß sogleich weiter. Doch zielstrebig kam von der rechten Seite nun sein Partner.
Ich denke, es war das weibliche Tier. Aber der so genannte Geschlechtsdimorphismus ist beim Grauen Kranich wenig ausgeprägt. Am besten lassen sie sich zur Balzzeit unterscheiden. Aber dazu ein andermal.
Schön synchron
Es dauerte nicht lange, da fraßen die Partner nebeneinander. Und wieder war ich von der spontanen Synchronizität des Verhaltens begeistert. Diese Abgestimmtheit liegt wahrscheinlich auch daran, dass Kranichpaare über Jahre und meist tagtäglich zusammen sind. Bei ihnen kann man wirklich von einer Dauerehe sprechen, anders als beim Weißstorch, der mehr an den Horst – also den Nistplatz – als an den Partner beziehungsweise die Partnerin gebunden ist. Doch dadurch bleiben auch Storchenpaare oft jahrelang zusammen.
Der Federbusch des Kranichs
Sehr deutlich kommt auf den Fotos immer wieder der große Federbusch ins Bild, der bei Erregung und bei der Balz eindrucksvoll präsentiert wird. Dass diese Schmuckfedern meist etwas zerzaust wirken, ist nicht ungewöhnlich. Sie werden nämlich nicht alljährlich gewechselt.
Im Gegensatz zu den kleinen wärmenden Federchen wechseln Kraniche die großen Federn nur alle 2 bis 4 Jahre. Zu diesem Großgefieder gehören die Federn der Flügel – sie wachsen an der Hand und am Arm des Vogels – und auch der imposante Federbusch. Seine schmückenden Federn schieben sich im Bereich der Ellenbogen heraus – umgangssprachlich gesagt: zwischen Flügel und Rumpf.
Damit man sich das besser vorstellen kann, habe ich diese Federn für euch eingekreist. Die Zeichnungen stammen aus Grzimeks Tierleben (Kindler Verlag, Zürich, 1969, Bd. VIII, Vögel 2, S. 124). Übrigens eine wundervolle Edition und mein Tipp, falls man sie antiquarisch bekommt.
Und der Abgang
Irgendwann änderte sich das Schauspiel, weil das Tier, das ich für das Weibchen hielt – es war ein wenig kleiner –, sich Richtung Waldrand verabschiedete. Und was tat der Partner? Er folgte.
Grauer Kranich | Grue cendrée | Common crane | Grus grus
aktualisiert 05.10.2021
Hallo Elke, was Du über die Kraniche geschrieben hast, fand ich sehr interessant, vor allem über die Vielfältigkeit ihrer Nahrung; das wusste ich noch nicht. Wir haben hier bei Berlin momentan so viele Kraniche, ich bin in der Gegend von Linum ständig unterwegs. Es ist eine Freude, ihnen zuzuschauen und auch den Flug am Abend zu beobachten. Was außerdem interessant ist: Ich konnte schon oft Rehe inmitten der Kraniche beobachten. Die gehen völlig relaxed miteinander um. Wahrscheinlich nutzen die Rehe die Wachsamkeit der Kraniche zu ihrem eigenen Vorteil. Dazu mein Foto (© Gabriele Greaney)
Du hast völlig recht Gabriele. Man sieht Kraniche und Rehe wirklich oft gemeinsam. Und vermutlich ergänzen sie einander optimal: die Kraniche mit ihrem guten Gehör, die Rehe mit ihrem guten olfaktorischen Sinn – also der Nase. Und danke für das Foto mit den Rehen!