Welch ein bemerkenswertes Buch! Und das ist definitiv untertrieben. Richtiger ist hingegen, was der Verleger Sebastian Guggolz auf den Buchrücken drucken ließ: Beim Lesen begleitet uns
„eine hypnotisch poetische Spannung und macht diesen Roman zu einem einzigartigen norwegischen Juwel.”
Der Titel, diese Ankündigung und der feine Einband des Buches, durchaus schlicht und mit den fallenden Federn doch voller Andeutungen, hatten mich angelockt.
Ich nahm den Roman aus der Auslage der Neuerscheinungen in meiner kleinen Buchhandlung – und mit nach Hause. Einmal aufgeschlagen, konnte nicht von ihm lassen.
Der „Dussel“
Die Faszination geht weniger von den Vögeln aus, die hier als Waldschnepfen im Leben der Hauptfigur unvermittelt auftauchen, sondern von dieser Person – dem „Dussel“ Mattis. Wir würden ihn heute vielleicht als Menschen mit einer leichten geistigen Behinderung oder mit einer Intelligenzminderung bezeichnen, aber in dem norwegischen Dorf, seiner Heimat, ist er Mitte des letzten Jahrhunderts für alle nur der „Dussel“. Und genauso wird er behandelt, lässt er sich von anderen behandeln.
Beim Lesen erscheint er uns hingegen oft als einfühlsam und reflektiert, als teils geistreich und teils kauzig.
Mattis ist Ende Dreißig und lebt zusammen mit seiner etwas älteren Schwester, die ruhelos für ihn sorgt, sich oft um ihn sorgt und das Haus in Stand hält. Aber für die reiche und eben auch konfuse Innenwelt ihres Bruders bringt sie fast kein Verständnis auf. Sie dringt immer wieder darauf, dass er bei einem Bauern arbeitet, doch keiner kann ihn brauchen. Denn im Dorf kennen sie den Mattis. Selbst das Unkraut zwischen den Rüben zu hacken, gelingt ihm nicht, Seite 52
Er war nervös. Wusste nicht wie.
Bald passierte wieder dasselbe wie sonst, wenn sich seine Gedanken bei der Arbeit verwirrten, kreuz und quer gingen, ihn lähmten.
Kaum hatte er daran gedacht, war es auch schon da: Es fing an mit quer gespannten Fäden an den Fingern, die das Gegenteil von dem taten, was er wollte, und ihn langsamer werden ließen.
Der „Dussel“ kann seine Gedanken nicht sortieren, nicht im Zaume halten und schon gar nicht in Worte fassen, die für seine Mitmenschen verständlich und einsichtig sind.
Und das ist das Großartige an diesem Buch: Dem in Norwegen hoch angesehen Schriftsteller Tarjei Vesaas gelingt es, uns in die Innenwelt dieses Mattis hineinzuziehen. Er ermöglicht eine schrittweise Introspektion des fremden Gegenüber, das uns nicht unbedingt fremd bleibt. Anders gesagt: Wir erahnen mehr und mehr, wie der „Dussel“ tickt.
Schnepfenstrich
Die Vögel ist kein Roman über Vögel. Aber mit dem Auftauchen einer ersten Waldschnepfe beginnt sich das Leben von Mattis zu ändern. Ihr Erscheinen wirkt wie ein Kippschalter. Gerade hatte der hilfsbedürftige Bruder noch die bedrohliche Vision, dass seine Schwester ihn irgendwann alleine lässt, ihn verlässt, da kommt in der Abenddämmerung eine Schnepfe im Balzflug angeflogen, Seite 26
Und da, ein leiser Laut! Merkwürdige Töne auf einmal. Zugleich waren da undeutlich in der Luft über ihm ein paar kurze, rudernde Flügelschläge. Dann nochmals ein paar leise Lockrufe, in einer unbeholfenen Vogelsprache.
Es ging geradewegs übers Haus weg.
Aber Mattis durchzuckte es durch und durch. Stumme Erregung packte ihn, hellwach und getroffen saß er da:
War das etwas Unnatürliches gewesen? Nein, alles andere als das. Obwohl…
Eine Waldschnepfe war das gewesen. Und die flog um diese Tageszeit nicht einfach so irgendwo lang: Ihr Balzflug hatte über sein Haus geführt!
Wenig später taucht der Vogel erneut über dem Haus auf.
Und wieder weg, verborgen im weichen Zwielicht und den schlafenden Baumwipfeln.
Da sagte Mattis laut:
»Ja, das ist der Schnepfenstrich.«
Er wusste nicht, warum er das sagte und woher er es hatte. Weniger konnte er nicht sagen oder tun – und niemand hörte ihn dabei.
Es fühlte sich an, wie wenn nach langer, schwerer Zeit etwas überstanden war.
Von nun an wird täglich eine Schnepfe über das Häuschen von Mattis und seiner Schwester Hege fliegen. Denn Schnepfen nutzen in der Balzzeit bestimmte „Luftpfade“, so könnte man sagen. Sie sind der „Schnepfenstrich”. Dieser Schnepfenstrich ist kein schlichter Schnepfenflug, sondern ein mit Balzlauten verziertes Flugverhalten, das den Weibchen am Boden gilt.¹ ²
Und was löst die balzende Waldschnepfe nicht alles bei dem „Dussel“ aus?, Seite 34
Mattis nahm den Schnepfenstrich mit in den Schlaf, und warum auch immer, das bescherte ihm einen herrlichen Traum.
Ein Ruf erst bevor er etwas sah:
»Wir kommen, wir kommen, hieß es. Du bist doch da?»
»Ja klar», antwortete er vielleicht.
»Das hat lange gedauert«, hieß es freundlich, »aber die Zeiten sind jetzt vorbei.«
Die Folgen
Wie sich die Zeiten für Bruder und Schwester ändern, was sich auf dem Schnepfenstrich ereignet als ein Jäger auftaucht (S. 94), warum Mattis ein Fährmann wird, auch diese phantastische Sache mit zwei Schulmädchen und welche Rolle ein fremder Holzfäller spielt (S. 178) – all das soll hier nicht verraten werden. Nur noch dies: Anna und Inger, die aus der Stadt gekommen sind, betrachten ihn nicht als „Dussel“. Und auch das hat Folgen.
Nachdem Mattis mit seinem Boot gewissermaßen Schiffbruch erlitten hatte, traf er die Sommergäste Anna und Inger auf einem Inselchen im See. Und er staunt, Seite 130
War dies das Glück? Das Glück war auf einer nackten Felseninsel zu ihm gekommen, ohne Vorankündigung. Er hatte nichts dafür getan. Jetzt konnte er sogar klug reden.
Da lagen die zwei Mädchen ohne jede Scheu vor ihm. Er hätte sie mit der Hand erreichen können, so nah bei ihm lagen sie. Die Sonne vergoldete sie für ihn…
Was dieses Buches zu einem Genuss macht, ist die feinfühlige Sprache, sind all die Nuancen und Untertöne in diesem wunderbaren Text. Das hat Tarjei Vesaas (1897 – 1970), der wiederholt als Kandidat für den Literaturnobelpreis im Gespräch war und in dem westnorwegischen Dialekt Nynorsk geschrieben hat, genial angelegt. Und der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel hat es unfassbar treffend ins Deutsche übertragen. Ein Juwel!
Judith Hermann schreibt über Tarjei Vesaas in ihrem Nachwort zu Die Vögel, Seite 271
Seine Sätze sind karg und knapp, ziemlich unverziert, er verzichtet auf beinah jedes Kolorit und trotzdem glüht der Text, hat er eine greifbare Wärme und Kraft, er schweigt und spricht zugleich.
¹ Schnepfenstrich ist ein Begriff aus der Jägersprache und ein Wort, das sich im deutschen Wortschatz auch in „Strich” oder „Stricher” wiederfindet und mit käuflichem Sex verbunden ist. Im ethymologischen Wörterbuch Kluge ist die Ableitung des „Strichs“ – als dem Laufweg der Freier – von „Schnepfenstrich” zu finden.
² Ich hatte in der ersten Version dieser Rezension vermutet, dass der schillernde Begriff „Schnepfenstrich” in seiner Mehrdeutigkeit bedeutsam ist, weil der Vogel bei Mattis so viel auslöst und die Geschichte in andere Bahnen lenkt. Aber Hinrich Schmidt-Henkel, der Übersetzer des wunderbaren Buches, hat mir kürzlich geschrieben, dass das Norwegische den „Schnepfenstrich” als Begriff nicht kennt – nur Schnepfenzug. Das ist schade, vielleicht hätte Tarjei Vesaas seine Freude an diesem Nebengleis gehabt.
Die Vögel
Autor: Tarjei Vesaas
Verlag: Guggolz, Berlin
Jahr: 2020
Vielen Dank für diese wunderbare Besprechung!
Nur sollte man sich bei den – allerdings vollkommen zutreffend erwähnten – Bedeutungsebenen von „Strich“ und „Schnepfenstrich“ nicht allzu sehr aufhalten, denn sie kommen nur durch die Zufälle der deutschen Sprache in der Übersetzung ins Spiel. Der norwegische Begriff „rugdetrekk“ (wörtlich „Schnepfenzug“) bietet keine solchen Nebengedanken, die für den Autor mithin keine Rolle gespielt haben.
Einen sehr herzlichen Gruß des Übersetzers!
Lieber Herr Schmidt-Henkel, wie gut, dass sie sich gemeldet haben! In meiner Rezension habe ich nun berücksichtigt, dass das Norwegische den Begriff „Schnepfenstrich“ nicht kennt. Eigentlich schade – und vielleicht hätte Tarjei Vesaas an dem schillernden Begriff sogar seine Freude gehabt. Herzliche Grüße von Elke Brüser
Liebe Elke,
Bezugnehmend auf Deine Bemerkung, dass Du Dich demnächst lesend nach North Carolina begeben wirst – meine Empfehlung, lies das Buch möglichst in Englisch. Die Sprache gibt sehr viel intensiver die Menschen und ihr heimatliches Umfeld wieder. Die Gegend kenne ich sehr gut, da mein Mann dort in einem kleinen Fischerdorf aufgewachsen ist.
Vielen Dank für Deine wunderbaren Beiträge und Buchtipps, die immer herzlich willkommen sind.
In Vorfreude auf die nächsten „Entdeckungen“ , Karen
@ Karen, welch schöner Tipp. Und gerade rechtzeitig. Ich denke das ist ein Buch für die Zeit zwischen Weihnachten und Sylvester. Natürlich auch ein Dank für dein Lob! Lass es dir gut gehen…
@karen und @gabriele, ihr habt mir beide zu „Where the Crawdads sing“ von Daniela Owens geraten, und dafür danke ich euch. Das Buch hat mich als Biologin und als Frau förmlich mitgerissen. Ich habe mich schnell eingelesen und stimme euch zu: unbedingt die englischsprachige Version lesen. Nur so kommt die Atmosphäre richtig rüber.
Liebe Elke,
danke für den Buch-Tipp, Du weißt, ich bin immer interessiert und habe mir den Titel gleich notiert. Meine AGB hat das Buch auch, allerdings ist es ausgeliehen, ebenso die Ausgabe von 1961. Es handelt sich also um eine – wohl sehr gelungene – Neuübersetzung. Und die AGB hat auch div. weitere Titel von Vesaas im Angebot. Ich kannte den Namen bisher überhaupt nicht, dabei ist (war – ist schon tot) er wohl einer der bekanntesten Schriftsteller Norwegens und wurde mehrfach für den Nobelpreis gehandelt.-
Den Begriff „Schnepfenstrich“ kenne ich aus Turgenjews Aufzeichnungen eines Jägers, da entfaltet er eine fast magische Bedeutung. Die Jäger gehen immer „auf den Schnepfenstrich“ , lassen sich hinterher die Vögel – samt Schnepfendreck – zubereiten und verzehren sie genüsslich mit viel Alkohol.
Liebe Grüße
Irma
@ Irma, das ist ein schöner Tipp mit Turgenjews „Aufzeichnungen eines Jägers“ und kommt auf meine Leseliste. Aber: Um so mehr wundert es mich, dass bei Deutschlandradio Kultur der Schnepfenstrich nicht bekannt war. Es ist ja wahrlich kein reines BiologInnenwissen. Wer einmal im Internet zur Waldschnepfe recherchiert, dürfte auch auf den Schnepfenstrich und den Schnepfendreck stoßen.
Das liest sich vielversprechend, ich werde es mir ganz sicher kaufen – danke für diese ausführliche Rezension. Und bei dieser Gelegenheit möchte ich Dich auch auf ein Buch aufmerksam machen, das ich gerade zum 2. Mal lese und dabei fast eintauche in diesen Küstenstrich in North-Carolina: „Where The Crawdads Sing“ von Delia Owens. Sie ist eigenentl. eine „wildlife scientist“ und das hier ist ihr erster Roman. Die Genauigkeit, die Feinfühligkeit, Beobachtungsgabe und Beschreibungen der Spezies in der Marsh, Küste North Carolina, wo sie als „Marsh Girl“ zurückgelassen und auf sich selbst gestellt ist, das ist umwerfend schön. Am liebsten würde ich jetzt dort sein 🙂
Unbedingt lesenswert – eine Bereicherung – aber auch eine spannende Lektüre !!!
@ Liebe Gabriele, dann freue ich mich über eine Reaktion, wenn du das Buch „Die Vögel“ gelesen hast. Und danke für deinen Tipp! Dann werde ich mich wohl demnächst lesend nach North-Carolina begeben.