Vielen Menschen gilt der Marabu als einer der hässlichsten Vögel überhaupt. Als geradezu ekelerregend wurden sein Aussehen und Verhalten bezeichnet. Dennoch oder gerade deshalb lohnt es, ihn genauer zu betrachten: Was verursacht diese Ablehnung? Und: Was hat er eigentlich mit der Federboa zu tun, die sich nicht nur der Filmstar Mae West um den Hals schlang?
Ein paar trockene Fakten vorab: Der Marabu gehört in die Familie der Störche (Ciconiidae) und lebt in vielen Regionen von Subsahara-Afrika. Sein natürlicher Lebensraum sind die Feuchtgebiete und Savannen, aber auch am Rand von Dörfern und Städten findet er, was er zum Leben braucht.
Mit einer Größe von rund 1,5 m ist der Marabu der größte Vogel unter den weltweit 19 Storcharten. Er bringt bis zu 9 kg auf die Waage. Der Sexualdimorphismus ist wie bei anderen Störchen gering, allerdings sind weibliche Vögel im Durchschnitt etwas leichter und kleiner. Nah verwandt ist der Marabu mit dem Sattelstorch. Etwas entferntere Verwandte sind der Klaffschnabel und der hierzulande wohlbekannte und geschätzte Weißstorch.
Die Hypothek des Marabus
Was den Marabu in unseren Augen so hässlich macht, sind der weitgehend kahle Kopf und der unbefiederte Hals – Merkmale, die auch bei Geiern nicht gerade als schön wahrgenommen werden.
Dazu kommt ein äußerst mächtiger Schnabel, der eher unförmig als elegant wirkt.
Doch dieses in der Tat wenig anziehende Äußere passt zur Ernährung des Marabus und zu seinem Verhalten insgesamt.
Denn Vögel, die sich wie die Gänsegeier, der Schmutzgeier, der Andenkondor oder eben auch der Marabu von Aas ernähren, können in Schnabelnähe keine Federn gebrauchen.
Sie würden beim Fressen an Kadavern durch Blut und Gewebereste verschmutzen, und sie lassen sich an dieser Stelle nicht ausreichend reinigen – auch wenn der Vogel noch so beeindruckende Verrenkungen macht.
Ein sauberes Gefieder ist jedoch für alle Vögel lebenswichtig, denn leicht breiten sich hier Schädlinge aus. Auch können Federn verkleben und schließlich das Fliegen behindern.
Wie sorgfältig der Marabu sein Federkleid putzt, konnte ich kürzlich im Zoologischen Garten von Berlin beobachten. Mit imposanten Verbiegungen seines Halses wurden am Morgen selbst die kleinsten Federn gesäubert.
Ausgiebiges Knabbern zwischen den kleinen Federn und Pflege der Konturfedern des Großgefieders.
Wer den Marabu beobachtet, bemerkt auch bald den großen Hautsack, der am Hals meist schlapp herunter hängt – oder auch aufgeblasen sein kann. Dieser Kehlsack oder Kropf ist namensgebend für die Storchengruppe, in die der Marabu und auch der Sattelstorch gehören: Sie sind Kropfstörche.
Der außergewöhnliche Naturforscher, Zoologe und Schriftsteller Alfred Edmund Brehm charakterisierte die Marabus und ihre Verwandtschaft in Brehms Tierleben (1900, Leipzig und Wien, Bd. VI, Vögel 3) mit klaren Worten so, Seite 520
Die häßlichsten aller Störche werden Kropfstörche (Leptoptilus) genannt, weil ihre Speiseröhre sich am Unterhalse zu einem weiten Sacke ausdehnt, der zwar wenig Ähnlichkeit mit dem eigentlichen Kropfe hat, aber doch in derselben Weise gebraucht wird.
Über die Funktion dieses Sackes wurde viel gestritten. Heute ist klar: Es ist kein typischer Kropf, er dient auch nicht als Puffer und praktische Ablage für den schweren Schnabel, sondern erfüllt zweierlei Funktionen:
Er nützt den Vögeln als Klimaanlage, wenn es zu heiß wird.² Sie hecheln dann mit geöffnetem Schnabel und geben Körperwärme über die große Hautfläche des Kropfes ab.
Außerdem macht der aufgeblasene Kehlsack die Vögel während der Balzzeit attraktiver. Die Männchen blasen ihn (oder sich) praktisch auf, um ihre Artgenossinnen und Rivalen zu beeindrucken.
Nicht sonderlich schön wirkt auf uns auch die faltige, teils pickelige Haut des Marabus – „grindig“ ist in Vergessenheit geratener Ausdruck, den Brehm passenderweise dafür verwendet hat.
„Geheimer Rat“ oder „Vogel Frack“
Aus der Ferne präsentiert sich der Marabu viel vorteilhafter als aus der Nähe, zumal wenn im Gegenlicht bei jüngeren Vögeln die noch verhandenen Federchen an Hals und Kopf aufleuchten. Wegen seines dunklen Rückengefieders und der hellen Unterseite inklusive der weißen Beine wurde dieser Storch vor allem früher als „Vogel Frack“ bezeichnet oder als „Geheimer Rat“.
Gemeint war und ist damit jemand, der nicht selbstsicher auftritt, sondern sich wie ein unterwürfiger Beamter verhält und als Ratgeber seines Herrn vor allem Vorsicht walten lässt. Alfred Edmund Brehm beschreibt die Wirkung des Marabus auf uns so, Seite 521 ¹
der sich scheu und ängstlich fortwährend nach dem strengen Gebieter umschaut …
Und auch für das Schreiten des Vogels hat Brehm treffende Worte gefunden, Seite 522
Das Benehmen des Marabus steht mit seiner Gestalt und Haltung … im Einklange. In jeder seiner Bewegungen spricht sich unverwüstliche Ruhe aus. Sein Gang, ja jeder Schritt, jeder Blick scheint berechnet, genau abgemessen zu sein.
Während dieses Video illustriert, was in Brehms Tierleben nachzulesen ist, malt ein Video aus der Savanne Namibias ein geradezu anmutiges Bild. Als äußerst großartig und typisch wirkt die Lässigkeit, mit der er hier bei großer Hitze und mit offenem Schnabel durch das hohe Gras schreitet.
Dieser Marabu weiß, dass Impalas – also die Schwarzfersenantilopen – und Paviane ihm nichts anhaben können, dass die Löwen am späten Vormittag schlafen und die Elefanten weit entfernt an einem Seitenarm des Sambesi Wasser schlürfen.
Von der Federboa
Beim Lesen in Brehms Tierleben, meiner antiquarischen Ausgabe von 1900, fiel mir ein Halbsatz auf, der mich neugierig machte: Brehm nennt dort den Marabu „Erzeuger köstlicher Feder“ und beklagt, dass er das während seiner Afrikaexpedition übersehen hatte.
Die Federn, um die es dabei geht, befinden sich auf der Unterseite des Vogels. Es handelt sich um schneeweiße Federchen von großer Zartheit. Sie werden Dunen oder auch Daunen genannt.
Vögel kleiden damit oft den Nistplatz aus und wärmen so auf kalter Unterlage ihre Eier und später die Küken. Menschen kennen diese Federn von der Daunendecke, in der Enten- oder Gänsedunen stecken.
Die Eigenschaft der Dunen, weich und wärmend und anschmiegsam zu sein, beruht darauf, dass sie sehr fein und nicht durch eine Art Verkettung miteinander verbunden sind.
Solche Querverbindungen zwischen den einzelnen Federästen machen die großen Konturfedern stabil. Liegen diese dann eng und überlappend nebeneinander, entstehen straffe Flügel, mit denen ein Vogel sich aufschwingen und von Luftströmungen tragen lassen kann.
Aus den zarten Dunen der Marabus wurden und werden Federboas hergestellt, die im 19. Jahrhundert in Mode kamen. Auch Straußenfedern wurden schon damals genutzt. Heute stammen die Federn solch schlangenähnlicher Schals – daher der Name Boa – meist vom Truthahn, oder sie sind künstlich angefertigt.
Alfred Brehm und seine Mitstreiter hatten diesen geldwerten Schatz während ihrer Expeditionen in Ostafrika übersehen und nicht gehoben. Dabei gingen ihnen damals im Sudan die finanziellen Mittel aus, nachdem die Förderung durch Baron von Müller ausblieb.
Ziel der Forscher war es, Marabus und auch viele andere Vogelarten zu schießen und die vom Fleisch und Eingeweiden entkernten Vögel als Forschungsmaterial und als Museumsexponate nach Europa zu senden.
Marabufedern wie hier als Boa von Mae West haben übrigens den Vorteil, dass sie leicht färbbar sind, was bei dem Exemplar auf dem Foto allerdings gar nicht nötig war. (Foto: Allan warren, CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons)
Und nicht nur als Federboa machen Marabudunen von sich reden: Bis heute, wenn auch zunehmend weniger, werden sie in Kriminalistik verwendet. Ohne die wichtigen Feinheiten zu zerstören, lässt sich mit ihnen Farbpulver so auftragen, dass unsichtbare Spuren sichtbar werden.
Ein kluger Kulturfolger
Alfred E. Brehm, der Mitte des 19. Jahrhunderts Ägypten und den Sudan bereiste und darüber ein faszinierendes Buch³ geschrieben hat, konnte allerlei Bemerkenswertes von den Marabus berichten.
Er sah sie nicht nur am Nil, wo sie etwa Fisch und Frösche fressen, und in der Savanne, wo sie nach größeren Insekten und kleineren Reptilien schnappen, sondern auch dort, wo Menschen leben und wo geschlachtet wird.
Als Aasfresser sind Marabus Teil der Hygienepolizei. Sie vernichten nicht nur Kadaver, die in der Savanne anfallen, sondern bedienen sich auch beim menschengemachten Müll und bei den Schlachtern, die früher am Dorfrand oder in bestimmten Stadtvierteln Tiere geschlachtet haben.
Äußerst zahm waren übrigens die großen Vögel, bevor die Forschungsreisenden aus Deutschland hier ankamen. Denn Mensch und Marabu hatten sich gut miteinander arrangiert. Diese Vertrautheit ging jedoch sofort verloren, als Brehm und seine Begleiter begannen, Marabus zu erschießen.
Auch bei den Schlafbäumen, wo die Kropfstörche gesellig in Kolonien die Nacht verbringen, lernten sie schnell die Gewehre der Europäer zu fürchten. Dazu nochmals Alfred E. Brehm, Seite 523
Die Jagd bleibt stets schwierig, weil die außerordentliche Scheu der Vögel dem Jäger die Verfolgung verleidet. Nicht einmal auf den Schlafplätzen kann man mit Sicherheit darauf rechnen, diese klugen Vögel zu überlisten. Einige, die wir beunruhigt hatten, flogen während der ganzen Nacht über den Schlafbäumen hin und her ohne sich wieder zu setzen, und diejenigen welche bei den Schlachthäusern einmal geängstigt wurden, konnten uns Jäger zur Verzweiflung bringen.
Kleines Fazit: Der Marabu ist in unseren Augen keine Schönheit, hat aber die Modewelt und die Kriminalistik bereichert. Klug und lernfähig ist er auch.
¹ Brehm zitiert hier den Expeditionsbegleiter Richard Vierthaler, einen Arzt aus Köthen.
² Die weißen Beine sind ebenfalls ein Produkt der Thermoregulation, wie wir es vom Weißstorch kennen. Konzentrierter Urin wird an die Beine gespritzt und reflektiert die Sonnenstrahlen.
³ Brehms Reisen im Sudan, Erdmann Verlag, Tübingen und Basel, 1975 (Erstausgabe: Reise-Skizzen aus Nord-Ost-Afrika, 1853)
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