Endlich ist die „Ornithologie für Einsteiger und Fortgeschrittene“ von Michael Wink erschienen. Dieses deutschsprachige Fachbuch wird seit langem erwartet. Es ist die neu bearbeitete, topaktuelle 2. Auflage von „Ornithologie für Einsteiger“ aus dem Jahr 2013, in der ich selbst bei vielen Fragen fündig wurde. Auch als EBook ist die Neuauflage nutzbar.
Das Buch ist ein Kompendium des aktuellen Wissenstands zu den Themen Vogelbeobachtung und Ornithologie, also der wissenschaftlich betriebenen Vogelkunde. Sein Autor ist – quasi im Nebenberuf – ein seit Jahrzehnten engagierter Ornithologe, von dessen breiter Kenntnis viele Vogelforscher und Vogelforscherinnen profitiert haben und profitieren.
Im Hauptberuf war Michael Wink, Professor für Pharmazeutische Biologie, bis 2019 Direktor des Instituts für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie an der Universität Heidelberg. Nach seiner Emeritierung wurde er zum Seniorprofessor ernannt.
Das Buch
Genau genommen ist dieses kürzlich erschienene Werk ein Doppelpack aus Kapiteln zum Thema Vogelbeobachtung – neudeutsch Birding – und aus Kapiteln zur Biologie der Vögel, inklusive heutiger Gefahren für die Vogelwelt und inklusive einiger Hinweisen zum sinnvollen Arten- und Naturschutz.
Der erste Teil umfasst etwa 150 Seiten, der zweite Teil rund 250. Hinzu kommt ein wertvoller Serviceteil mit 50 Seiten, der die aktuelle Namensliste der Vogelarten, die in Deutschland anzutreffen sind, enthält. Außerdem gibt es ein nützliches Glossar. Wer nicht weiß, was sich hinter Begriffen wie Auslösereiz, hassen, Luch, Plumula oder Schnabelhaut verbirgt, findet hier Antworten. Und wie es sich für ein ordentliches Buch gehört, fehlt in Ornithologie weder ein Verzeichnis der Literatur- und Internetquellen, noch ein gutes Stichwortverzeichnis.
Teil 1: Nützliches für die Vogelbeobachtung
Einleitend geht es im ersten Teil um die Bedeutung der Vögel für uns Menschen und die Geschichte der Ornithologie. Dass sie bekanntlich lange vornehmlich von Männern betrieben und bestimmt wurde, demonstrieren die Porträtfotos ihrer Protagonisten.
Im Anschluss an den Ausflug in die Geschichte handelt Michael Wink viele praktische Fragen ab. Die Überschriften der Kapitel lauten: Wie beobachtet man Vögel? Wo kann man Vögel am besten beobachten? Wann lassen sich Vögel am besten beobachten? Wie kann man Vögel in den Garten locken oder sie dort ansiedeln?
Zahlreiche Fotos illustrieren den Text, etwa eine Abbildung von 12 geflügelten Wintergästen auf stehenden Gewässern, darunter Singschwan und Moorente. Wenig später folgt eine Bildkomposition mit 15 Höhlenbrütern, darunter Mehlschwalbe, Gartenbaumläufer und Steinkauz. Daneben gibt es mehrfach tabellarische Übersichten etwa zur Frage, wo und zu welcher Jahreszeit bestimmte Arten vorkommen. Und über immerhin neun Seiten erstreckt sich eine Tabelle mit den Brutzeiten häufiger Vogelarten Mitteleuropas. Eine Fundgrube für Wissbegierige und Neugierige!
Am Ende des ersten Teils stehen schließlich Hinweise dazu, wie und wo persönliche Vogelbeobachtungen registriert und archiviert werden können, beziehungsweise wie und wo solche im Internet abrufbar sind.
Teil 2: Evolution, Biologie und Ökologie der Vögel
Der zweite Teil des Buches enthält alles, was ein vogelbegeisterter Mensch über das Objekt seiner Beobachtungen und Überlegungen wissen möchte, könnte, sollte. Das allerdings ist höchst komprimiert und anspruchsvoll abgefasst. Hier gilt also der Hinweis des Autors, Seite 147
Für Nicht-Biologen können diese Kapitel zunächst eine Herausforderung darstellen, da Fachausdrücke in diesem Teil unverzichtbar sind.
Die Vorwarnung trifft zu. Die Herausforderung ist aber keineswegs der Wortwahl, unnötigen Fachausdrücken oder komplizierten Formulierungen des Autors geschuldet, sondern der Sache selbst.¹ – Da mag ein alter Tipp von einer befreundeten Buchlektorin helfen: Wir müssen nicht jeden Satz verstehen, sondern dürfen manches auch einfach überlesen.
Grundsätzlich ist aber selbst das erste Kapitel Taxonomie, Systematik und Evolution der Vögel in Teil 2, das naturverbundenen Ornis eher trocken erscheinen mag, reich an gut verständlichen Erklärungen. Das gilt für Ausführungen zum Sinn und Aufbau der Linné’schen Nomenklatur, die dafür sorgt, dass Vogelbegeisterte bei Falco tinnunculus weltweit an denselben Vogel denken, den Turmfalken. Gleiches gilt für Turdus merula, die bereits in Deutschland mindestens zwei Namen hat, nämlich Amsel beziehungsweise Schwarzdrossel*, während die wissenschaftlich Nomenklatur eindeutig ist.²
Wie nachvollziehbar Michael Wink komplizierte Zusammenhänge erklärt, mag das folgende ausführliche Zitat zum Begriff adaptive Radiation wiedergeben, Seite 161:
Innerhalb von Vogelfamilien und -gattungen, die jeweils von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen, kann man häufig eine erstaunliche Variabilität in der Morphologie und Umweltanpassung beobachten. Man denke beispielsweise an die Limikolen der Ordnung Charadriiformes, die offenbar monophyletisch sind, d.h. von einer „Urlimikole“ abstammen. Betrachtet man ihre Schnäbel, so findet man kurze Schnäbel bei den Regenpfeifern, kräftige Schnäbel beim Austernfischer, lange Schnäbel bei den Uferschnepfen, und lange gebogene Schnäbel bei den Brachvögeln und Säbelschnäblern. Offenbar sind diese unterschiedlichen Schnabelformen Voraussetzung dafür, dass die entsprechenden Arten unterschiedliche Nahrung nutzen können und sich dadurch keine oder wenig Konkurrenz machen. Dies kann als Beispiel für ökologische Artbildung angesehen werden. Der zugrundeliegende Prozess wird als adaptive Radiation bezeichnet.
Da dürfte sich jeder Lehrer und jede Lehrerin freuen, die in der Oberstufe das Thema Evolution unterrichtet, zumal das Buch insgesamt reich illustriert ist. Allein in dem überschaubaren Kapitel Taxonomie, Systematik und Evolution der Vögel finden sich auf knapp 30 Seiten 25 Fotos von Vögeln, 18 Grafiken beziehungsweise Schaubilder und 4 Tabellen.
Kompliziert ist der Text etwa bei der komprimierten Darstellung der DNA-Sequenzanalyse, die die verwandtschaftlichen Beziehungen von Vogelarten aufdeckt und Folgen für die Systematik und Nomenklatur hat. Aber wer hier aussteigt, profitiert dennoch, weil es zum Beispiel eine Liste mit den alten und den neuen Vogelnamen gibt. Die Lachmöwe heißt eben heute nicht mehr Larus ridibundus, sondern Chroicocephalus ridibundus, weil sie in Folge moderner genetischer Analysemethoden nicht mehr der Gattung Larus zugerechnet wird, sondern der Gattung Chroicocephalus.
Mehr geht nicht
Eine Menge an wertvollen Informationen finden Vogelbegeisterte sicher in dem Kapitel Anatomie und Physiologie. Es handelt von der Haut, von Federn und Flügeln, vom Fliegen, von Füßen und Beinen, von Kopf, Atmung, Herz und Kreislauf, vom Blut, dem Verdauungstrakt, dem Urogenitalsystem, der Körpertemperatur samt Thermoregulation und Energieverbrauch, vom gesamten Wasserhaushalt und schließlich von den endokrinen Drüsen.
In all diesen Kapitel geht Michael Wink sehr systematisch vor. Es ist der ordnende Blick eines Biologen, der das lesende Publikum vielleicht nicht unbedingt berauscht, aber ihm eine klare Richtschnur gibt. Zum Beispiel so, Seite 185
Die Haut besteht aus Ober-, Leder- und Unterhaut. Die Oberhaut (Epidermis) setzt sich aus dem Stratum corneum mit verhornten toten Zellen und dem Stratum germinativum mit lebenden Zellen zusammen.
Doch trotz der ordnenden Struktur enthält Ornithologie viele spannende Details, die wie nebenbei erwähnt werden. Um ein Beispiel zu nennen, ein Zitat aus dem Abschnitt Signalfunktion des Federkleids zum Thema Geschlechtsdimorphismus und Geschlechterrollen (Gender), Seite 189
Bei einigen Limikolen (z.B. Thorshühnchen) tragen die Weibchen ein Prachtkleid und die Männchen sind weniger prächtig, aber immer noch auffällig gefärbt. Bei ihnen sind die Pflichten auch anders verteilt: Während die Männchen brüten und die Jungen aufziehen, suchen die Weibchen einen anderen Partner und beginnen eine weitere Brut.
Auch in Sachen Gefiederwechsel findet sich ein geradezu unglaubliches Detail, das Phänomen Mauserzug. Und angefügt hat Michael Wink zudem einen praktischen Hinweis, Seite 195
Eiderenten und Brandgänse finden sich an der Nordseeküste an traditionellen Mauserplätzen zu vielen Tausend Individuen zusammen (sog. Mauserzug). Wenn man im Sommer und Frühherbst viele Federn am Gewässerrand findet, so ist dies kein Zeichen dafür, dass dort viele Vögel gestorben sind** oder gerupft wurden, sondern es handelt sich meist um Mauserfedern.
Meines Erachtens ist übrigens in Ornithologie eine Unmenge an Daten sortiert und zusammengefasst, die bei den beliebten Ratesendungen im Fernsehen demnächst eine Rolle spielen könnten. Allein beim Thema Fliegen stoßen wir auf Tabellen zur Flügelschlagfrequenz verschiedener Vogelarten, zum Verhältnis von Körpergewicht zur Flügelspannweite, zum Verhältnis von Körpergewicht zur Flügelfläche, woraus sich die Flächenbelastung ergibt, und auf eine Tabelle zu den Lasten, die große Vögel transportieren können.
Konkret: Ein Fischadler kann das eigene Körpergewicht von 1800 g tragen, die Harpyie schafft weniger, aber der Bindenseeadler deutlich mehr. Bei einem Eigengewicht von 3700 g fliegt er oder sie unter Umständen mit einem 5900 g schweren Karpfen davon.
Vier weitere Tabellen über die Fluggeschwindigkeit von Vögeln finden sich in demselben Abschnitt. Soweit der Detailreichtum des Kompendiums.
Und nach 230 Seiten sind wir nun erst bei der Hälfte des Buches angelangt! Was folgt ist zunächst ein Kapitel mit der Überschrift Ernährung, daran schließen sich Fortpflanzung, Kommunikation und Verteidigung an. Weiter geht es mit Mortalität, Lebenserwartung und Krankheiten, Ökologie, Vogelzug, Bedrohung und Gefahren, Arten und Naturschutz. Also: Das Buch enthält gewissermaßen alles, was zum Thema Ornithologie und Vogelleben zu sagen ist. Mehr geht nicht.
Und zum Schluss
Am Ende von Ornithologie widmet sich Michael Wink der durchaus traurigen Zukunft unserer Vogelwelt. Allein 32 Vogelarten sind als Brutvögel in Deutschland vom Aussterben bedroht. Das heißt, wir sehen vielleicht noch das eine oder andere Exemplar beim Durchzug und Rasten – etwa im Wattenmeer an der Nordseeküste –, aber diese Arten haben früher einmal hierzulande gebrütet und finden nun fast keine geeigneten Brutplätze mehr. Sandregenpfeifer und Seeregenpfeifer, auch der Große Brachvogel stehen in dieser Liste der bedrohten Brutvogelarten.
Schuld daran ist der Mensch. Sei es durch die Vogeljagd, durch die Überzahl freilaufender Katzen und durch die Art und Weise, wie Gebäude heute designt werden. Dies sind die drei hauptsächlichen Faktoren, die Vögel umbringen. Schätzungen für Nordamerika liegen bei jeweils 100.000 toter Vögel pro Jahr durch diese drei Ursachen. Bei den Gebäuden könnten es sogar 1 Millionen sein, vor allem Glasfassaden sind eine tödliche Falle.
Worunter viele Tiere leiden, ist der Habitatverlust, also der Verlust der angestammten Lebensräume durch flächenverbrauchende Siedlungen sowie durch eine Landwirtschaft, die mit Gülle, Kunstdünger, Herbiziden und Insektiziden insbesondere Feldvögeln zusetzt. Auch die Intensivierung der Forstwirtschaft und Fichtenmonokulturen nennt Michael Wink als Problem. Und natürlich spricht er auch die Umwandlung tropischer Wälder als bedrohlich für die Vogelwelt und die Biodiversität weltweit an.
Aber es gibt auch gute Nachrichten: Viele Gartenbesitzer fördern die Biodiversität vor der Haustür *** und dort, wo den Vögeln sogenannte Primärhabitate verloren gegangen sind, entstanden „Paradiese aus zweiter Hand“. Das gilt etwa für die Seenlandschaften, die in Braunkohlegebieten der Lausitz geschaffen wurden, für die Klärbecken ehemaliger Rübenfabriken und für Baggerseen am Niederrhein und in Norddeutschland.
Michael Wink lässt uns also hoffen. Er setzt auf Artenschutz und Naturschutz, fordert seine Leserinnen und Leser auf, genauer hinzuschauen. Wo liegen auf der Straße tote Vögel? Finden sich in der Nähe von Strommasten oder Windenergieanlagen tödlich verunglückte Vögel oder ihre Überreste? Die Liste ließe sich fortsetzen …
Ornithologie für Einsteiger und Fortgeschrittene
Autor: Michael Wink
Verlag: Springer Spektrum
Jahr: 2025
* Was zum Beispiel im Gespräch mit meiner Mutter mehrfach zu Verwirrung führte, weil sie mit der Schwarzdrossel groß geworden war, am Institut für Verhaltensbiologie an der FU Berlin, wo ich arbeitete, aber zum Gesang der Amsel geforscht wurde.
**„sind“ ergänzt
*** Leider nicht alle. Vor allem die „versteinerten Gärten“ sind für die Biodiversität ein Problem und in zu wenigen Gemeinden verboten.
¹ Wem dieses gewichtige Buch zu anspruchsvoll erscheint, dem rate ich zu Wie funktioniert ein Vogel? Darin stecken gut aufbereitete wichtige Informationen über das Vogelleben.
² Dass auch die wissenschaftliche Nomenklatur Veränderungen unterworfen ist, ist ein anderes Kapitel.
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