„Ornis“ hat der Zoologe und erfahrene Vogelgucker sein Buch getauft, und der Untertitel lautet „Das Leben der Vögel“. Damit hat Josef H. Reichholf den Bogen gespannt: von den Vogelbeobachtern, Birdern, Ornithologen – kurz Ornis – zu dem Objekt der Beobachtung, fast schon der Begierde, nämlich den Vögeln.
Bereits als Kind haben ihn die Vögel begeistert. Und mit 13 Jahren fing er damit an, sein erstes ornithologisches Notizbuch zu schreiben.
Ungebrochen ist seither seine Begeisterung für die Vielfalt der Vogelwelt. Und manche Menschen und Interessengruppen fürchten sogar sein unablässiges Engagement für die gefiederten Lebewesen und ihr Habitat.
Eine Fundgrube
Ich muss sagen, dieses Buch mit seinen drei großen Abschnitten Vögel beobachten, Die Natur der Gefiederten, Lebensweise und Gefährdung der Vögel ist eine wunderbare Fundgrube, zumal der Autor biologische Zusammenhänge so lässig und nachvollziehbar erzählen kann.
Wissen Sie zum Beispiel, woher die Gruppe der „Säger“ – zu ihnen zählen tauchende Enten wie die Gänsesäger – ihren Namen hat? Hier steht’s (S. 45):
Wer noch keine Grundkenntnisse der Vogelwelt hat, dem wird eine solche Bezeichnung recht komisch vorkommen. Sie hat aber ihre Berechtigung, denn die Seitenkanten der schlanken Schnäbel der Säger sind sägezähnchenartig ausgebildet. Damit halten sie die schlüpfrige Beute fest: Fische passender Größe.
Vielleicht haben Sie sich auch schon gefragt, wohin die Bergfinken oder rotbäuchigen Gimpel – auch Dompfaffe genannt – im Frühjahr verschwinden, oder die Sperber, die im Winter unsere Vogelhäuschen belauern, immer in der Hoffnung einen Singvogel zu erwischen.
Josef H. Reichholf, der unter anderem an der Universität München Ornithologie gelehrt hat, erklärt das so: Viele von ihnen ziehen nach Norden, bauen also ihre Nester nicht bei uns, sondern nahe am Polarkreis in Skandinavien oder Russland. Wohingegen etwa die Schwalben und Nachtigallen im Frühjahr aus dem Süden zu uns kommen, um hier zu brüten.
Von Nahrungsspezialisten und dem Vogelzug
Dieses Verschieben, also der Vogelzug, hat viel mit dem Nahrungsangebot zu tun: Wer das ganze Jahr über Insekten fressen will und muss, fliegt im Herbst aus dem Norden nach Süden. Wer sich auf Beeren und Körner umstellen kann, bleibt bei uns – wie die Kohl- und Blaumeisen. Sie sind in der kalten Jahreszeit Körnerfresser, in der warmen Zeit Insektenfresser. Daraus folgt (S. 67):
Sie müssen dank ihrer Fähigkeit, von Insektennahrung im Sommer auf Pflanzensamen im Winter umzuschalten, gar nicht mehr nennenswert ziehen, sondern können weitgehend an Ort und Stelle bleiben.
Was das wiederum für den Magen bedeutet, lässt sich in dem Kapitel „Die Verdauung der Vögel“ (S. 166 ff) nachlesen. Dort erfahren wir auch, was Vögel – je nach Artzugehörigkeit – alles fressen und verdauen können (S. 170):
Es reicht vom Nektartrinken der Kolibris bis zur Kadaververwertung der Geier, vom Tauchen nach Fischen und Tintenfischen oder Muscheln vieler Seevögel bis zur Früchteverwertung bei Fruchtfressern, wie Fruchttauben, Turakos und Papageien, von Kleininsekten, wie dem Luftplankton, dem Segler und Schwalben nachjagen, bis zu Vögeln, Kleinsäugern und Affen, wie bei Falken, Habichten und Adlern …
Von Schnäbeln und Beinen
Natürlich gibt der Autor vielerlei Einblicke in den Vogelgesang, in Verpaarung, Nestbau, Vogeleier und wie Vogeleltern ihre Jungen durchfüttern. Auch über das Federkleid und die Sinnesleistungen von Vögeln erfahren wir Erstaunliches. Doch mein Lieblingskapitel ist definitiv „Schnäbel und Beine“. Darin geht es nicht nur um sonderbare Schnabelformen und wechselnde Schnabelfarben, sondern um Laufbeine, Wendezehen, Klammerfüße und den Lerchensporn.
Ein solcher Sporn ist die verlängerte Kralle der Hinterzehe. Diese nach hinten gerichtete Kralle macht es Vögeln leichter, sich nach vorne zu neigen und Futter aufzupicken. Manche Arten besitzen zusätzliche „Bauelemente“, damit sie beim Fressen nicht kibbeln (S. 164):
Wo das aus Gründen des Lebensraumes besonders wichtig ist, verlängert ein langer Schwanz noch die Wirkung der verlängerten Kralle an der Hinterzehe: Eine Bach- oder Gebirgsstelze, die am Rand eines Gewässers Nahrung aufpickt, sollte ja nicht ins Wasser fallen.
Das leuchtet ein.
Im dritten und letzten Abschnitt geht es um die Gefährdung der Vögel, und es ist keine Überraschung, dass der Autor, der jahrzehntelang die Ornithologie an der Zoologischen Staatssammlung in München verantwortet hat, hier die moderne Agrarwirtschaft als großes Übel vorführt. Aber ein Freund all der Jäger, Fischer und „Sport“angler ist Josef H. Reichholf aus guten Gründen auch nicht. Doch lesen Sie selbst.
Ornis. Das Leben der Vögel
Autor: Josef H. Reichholf
Verlag: Ullstein Taschenbuch, München
Jahr: 2016 (1. Auflage)
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