Wie Möwen uns bereichern

03. Oktober 2024 | Vogelbücher | 2 Kommentare

Auf einem leuchtend blauen Buchcover liegen zwei Möwen dahin. Buchtitel und Autor stehen auf dme Cover.Gleich mal vorneweg – wie wir Norddeutsche sagen würden: In Möwen geht es nicht vornehmlich um das, was wir über die Biologie verschiedener Möwenarten wissen. Es ist in Teilen eher ein Abriss ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung, inklusive wertvoller Beobachtungen und sechs Kurzporträts hiesiger Arten. Und das hat Gründe.

Der Autor Holger Teschke stammt aus Bergen auf Rügen und ist seit seiner Jugend mit Möwen vertraut. Auch mit den Fischen der Nord- und Ostsee kennt er sich aus, weshalb er für den Verlag Matthes & Seitz bereits das lesenswerte, schmale Buch Heringe verfasst hat. Beide Bände bieten mehr als biologische Informationen und Einblicke in das Leben der beschriebenen Tierarten, sie weiten zugleich den Blick. Bleiben wir bei Möwen, einem reich illustrierten, dabei knapp gehaltenen Band, der 2024 in der Reihe Naturkunden erschienen ist.

Holger Teschke geht gewissermaßen vielschichtig zu Werke. Er unterhält uns zum einen mit seinen biografisch verankerten Erkenntnissen über Möwen aus den 1960er Jahren. Denn als junger Mann von der Ostseeküste lernte er zunächst den Beruf des Schiffsschlossers und fuhr als Maschinist von Sassnitz aus mit Fischtrawlern auf See. Zum andern umreißt er die Wirkmacht der Möwen in der Kultur. Kein Wunder, denn mit Anfang 20 taucht er in die literarische Welt ein, geht ans Theater in Ost-Berlin – damals Hauptstadt der DDR – und lebt bis heute als Regisseur und Autor In Berlin.

Möwenleben

Der Flug der Möwen, ihr unterhaltsames Sozialverhalten und all die abergläubischen Zuschreibungen haben es bereits dem jungen Holger Teschke angetan. Bis heute beobachtet er sie. Mal zielgenau, mal versunken und nachdenklich. Zum Beispiel beschreibt er, wie sich vis-à-vis seiner Wohnung mitten in Berlin zwei Silbermöwen als Paar zusammenfinden, ein Nest bauen und Junge großziehen. In seiner alten Heimat auf Rügen fällt ihm auf, wie Möweneltern vom bettelnden Nachwuchs unter Druck gesetzt werden und bestaunt die Fischbrötchen stibitzenden Artgenossen.

Eine Möwe mit oberseits silbrig-grauen Flügeln schreitet mit fleischfarbenen Beinen über den nassen Sand.

Eine Silbermöwe (Larus argentatus) am Nordseestrand. Kennzeichnend sind das silbergraue Flügelgefieder, der rote Fleck am gelben Schnabel und die fleischfarbenen Beine. (Foto ©Elke Brüser)

Allerlei Details erfahren wir in dem Abschnitt „Das Jahr der Silbermöwen“. Denn der Autor hatte sich pandemie-bedingt ausgiebig über die naturwissenschaftliche Literatur hergemacht, bevor er die silbrig-weißen Vögel endlich wieder an der Meeresküste besuchen konnte. Wichtige Namen wie der Verhaltensforscher Niko Tinbergen oder der Helgoländer Vogelwart Friedrich Goethe fallen in diesen Abschnitt und werden in die Möwenforschung eingeordnet. Kopfschüttelnd blickt Holger Teschke zurück auf Zeiten, in denen Möwen aus Lust und Laune oder wegen ihrer weißen Federn geschossen wurden.

Von Berlin in die Welt

Seit der Schiffsschlosser sein Handwerk hingeschmissen hatte, war sein Leben mit Literatur und Theater ausgefüllt. Als Regieassistent arbeitete er zunächst am Berliner Ensemble und lernt angesagte Theatermacher und Schriftsteller kennen. Das lag, wie wir erfahren, auch an dem berühmten Club der Gewerkschaft Kunst Die Möwe, in dem sich Künstler aus Ost und West versammelten.

Eine Möwe mit oberseits dunkelgrauen Flügeln fliegt über dem Meer.

Eine Heringsmöwe (Larus fuscus) über dem Meer. Auffällig ist das dunkle Flügelgefieder. Die Beine sind wie der Schnabel gelb. (Foto ©Elke Brüser)

Auf Möwen stößt der Autor und Regisseur Holger Teschke immer wieder, sei es auf Fahrten zwischen Berlin und Rügen im Otto-Lilienthal-Museum von Anklam, auf einem Ausflugsdampfer in Wolgograd oder später bei seinen Gastspielreisen in den USA, wo er unter anderem mit Ringschnabelmöwen Bekanntschaft macht.

Schade eigentlich, dass er die hübsche Hemprichmöwe nicht irgendwo entdeckt hat. Hingegen berichtet er von seiner Begegnung mit Kappenmöwen in Hongkong. Und Erwähnung findet auch die wunderbare Dreizehenmöwe, die hierzulande nur auf Helgoland nistet.

Möwen als Mahner und Quelle der Inspiration

Holger Teschke kennt sich aus in der Literatur. Er weiß darum, in welchen Werken die Möwen kreischen und was sie uns zu sagen haben. Darüber hinaus begegnen uns Möwen auf Gemälden und in der Musik. Auch davon berichtet er.

Im Abschnitt „Möwen in den Künsten“ taucht nicht nur Johann Wolfgang von Goethe auf, sondern auch Der Mönch von Caspar David Friedrich. Außerdem lesen wir über „möwenhaltige” Werke von Joachim Ringelnatz und Christian Morgenstern, von Sarah Kirsch und Juri Sbanazki, von Edgar Allan Poe und William Shakespeare – und natürlich geht es auch um Anton P. Tschechows Theaterstück Die Möwe. Und schließlich: Was wäre ein Buch mit dem Titel Möwen ohne Bezug auf Alfred Hitchcock und den Thriller Die Vögel, der auf der Kurzgeschichte von Daphne du Maurier beruht.

Zum Ende wird es in dem 120 Seiten schmalen Büchlein Möwen sogar noch etwas besinnlich. Holger Teschke zitiert das plattdeutsche Lieblingslied seiner (und auch meiner) Mutter: Ostseewellen von Martha Müller-Grählerts:

Wo die Ostseewellen trekken an den Strand,
Wo de geele Ginster bleugt in’n Dünensand,
wo de Möwen schriegen, grell in’t Stormgebrus,
Dor is mine Heimat, dor bin ik to Hus.

Ganz am Schluss – unmittelbar vor den sechs doppelseitigen Möwenporträts – kommt dann das dicke Ende. Da beklagt der Autor den drohenden Verlust von Seevögeln, deren Lebensraum wir auf vielfältige Weise zerstören. Er mahnt:

Wie viele Möwen durch Kriege und andere menschengemachte Katastrophen sterben werden, erfasst keine Statistik. Je schneller das große Artensterben vor sich geht, desto lauter die Beteuerungen von Wirtschaft und Politik, jetzt endlich umzusteuern und darüber auf dem nächsten globalen Gipfel ernsthaft zu debattieren. Aber mit dem Tod lassen sich seit der Antike bessere Geschäfte machen als mit dem Leben. Nichts steigert Nachfragen und Umsätze schneller als Kriege, und nirgends werden mehr Gewinne gemacht als beim Wiederaufbau.

 

Möwen
Autor: Holger Teschke
Verlag: Matthes & Seitz
Jahr: 2024

Liebe Fans meiner Fotos, ich freue mich, wenn euch das eine oder andere Foto so gefällt, dass ihr es von meiner Website herunterladen möchtet. Allerdings sind alle mit ©Copyright geschützt. Darum fragt mich bitte per E-Mail vor jedem Download. Elke Brüser

2 Kommentare

  1. Der Besprechung möchte ich einen Hinweis auf den Podcast zum Buch anfügen. In dem kommt die Möwenexpertin Dorit Liebers-Helbig ausgiebig zu Wort, deren ornithologische Expertise Teschkes Werk über Möwen in Sachen Artenkenntnis aus meiner Sicht beeindruckend bereichert.
    Den Podcast bewerte ich als ebenso hörens -, wie das Buch lesenswert.
    Hier ein Link:
    https://www.podcast.de/episode/639355160/29-moewen-
    begreifen-mit-dorit-liebers-helbig-holger-teschke

    Antworten

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Frau mit Fernglas beobachtet etwas in der Ferne

Mit Fernglas und Kamera auf Vogel-„Jagd“ zu gehen, ist mancherorts geradezu ein Sport und von Wetteifer geprägt. Ich halte aber wenig davon, möglichst viele und auch seltene Arten aufspüren zu wollen, um sie akribisch in Listen zu erfassen. Mein Ding ist: stehen bleiben, lauschen und schauen, was Tiere so treiben.

Textes en français

Si cela t’intéresse: Ma chère amie Annie Riou a traduit quelques articles du blog en français. Et depuis 2023 Juliette Rakei, étudiante de la zoologie à Berlin et bilingue, fait des traductions. Merci! Tu les trouves ici.

Vogel des Jahres

Zwei schwarz-weiße Vögel mit teils schillernden Flügeln stehen sich gegenüber, unter ihnen ein kleiner Jungvogel.

2024  Der Kiebitz

Zwei Braunkehlchen sitzen auf einer Distelblüte, es sind Männchen und Weibchen.

2023  Das Braunkehlchen

Ein Rotkehlchen hockt auf einem Ast und füttert mit einem Wurm, den es im Schnabel hält, einen Jungvogel.

2022  Das Rotkehlchen

Wiedehopf mit gesträubter Haube - Ausschnitt aus einer Grafik im "Naumann" Bd.IV

2021  Der Wiedehopf

Eine rosabrüstige Taube sitzt auf einem Ast und blickt mit ihrem roten Auge zu uns.

2020  Die Turteltaube

Vier Lerchenvögel, in der Mitte ein adultes männliches Tier mit kleiner Holle.

2019  Die Feldlerche

Männlicher und weiblicher Star im Frühjahr im Prachtkleid - mit weißen Tupfern auf schwarzem Grund - auf einen Zweig sitzend.

2018  Der Star

Ein Waldkauz sitzt auf einem Ast; kolorierte Zeichnung aus Brehms Tierleben.

2017  Der Waldkauz

Ein Waldkauz sitzt auf einem Ast; kolorierte Zeichnung aus Brehms Tierleben.

2016  Der Stieglitz

Seevogel des Jahres

Ein Waldkauz sitzt auf einem Ast; kolorierte Zeichnung aus Brehms Tierleben.

2024  Der Sterntaucher

Brandseeschwalbe mit schwarzem Schädel und Mähne steht auf einem Felsen am Meer.

2023  Die Brandseeschwalbe

Ein möwenartiger Vogel steht auf einem Felsstein im nordisch anmutenden Meer

2022  Der Eissturmvogel

Der Jahresseevogel 2021 als Zeichnung: Zwei Weißwangengänse mit weißer Stirn und weißer Kehle vor einem nordischen Meer mit steilen Felsen.

2021  Die Weißwangengans

Auf einem Felsvorsprung am Meer steht eine Fluss-Seeschwalbe mit deutlich schwarzer Schnabelspitze. Links eine Zwergseeschwalbe und hinter ihr eine Küstenseeschwalbe.

2020  Die Fluss-Seeschwalbe

Eine schwarzweiß gemusterte Eiderente mit pfirsichfarbener Brust paddelt mit den Füßen im grünlich Meerwasser.

2019  Die Eiderente

Drei Sandregenpfeifer stehen am Meeresstrand. Links das Weibchen, rechts ein blasser gefärbter Jungvogel und in der Mitte das Männchen auf einem Stein. Jungtier

2018  Der Sandregenpfeifer

Vier Eisenten hocken auf Steinen im Wasser: großes männliches Tier mit brauner Brust, helleres weibliches Tier und zwei ebenfalls helle Jungvögel.

2017  Die Eisente

Drei Basstölpel in verschiedenen Altersstufen: weißes Baby, dunkler Jungvogel und weißer Altvogel mit gelblichem Kopf.

2016  Der Basstölpel

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