Gleich mal vorneweg – wie wir Norddeutsche sagen würden: In Möwen geht es nicht vornehmlich um das, was wir über die Biologie verschiedener Möwenarten wissen. Es ist in Teilen eher ein Abriss ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung, inklusive wertvoller Beobachtungen und sechs Kurzporträts hiesiger Arten. Und das hat Gründe.
Der Autor Holger Teschke stammt aus Bergen auf Rügen und ist seit seiner Jugend mit Möwen vertraut. Auch mit den Fischen der Nord- und Ostsee kennt er sich aus, weshalb er für den Verlag Matthes & Seitz bereits das lesenswerte, schmale Buch Heringe verfasst hat. Beide Bände bieten mehr als biologische Informationen und Einblicke in das Leben der beschriebenen Tierarten, sie weiten zugleich den Blick. Bleiben wir bei Möwen, einem reich illustrierten, dabei knapp gehaltenen Band, der 2024 in der Reihe Naturkunden erschienen ist.
Holger Teschke geht gewissermaßen vielschichtig zu Werke. Er unterhält uns zum einen mit seinen biografisch verankerten Erkenntnissen über Möwen aus den 1960er Jahren. Denn als junger Mann von der Ostseeküste lernte er zunächst den Beruf des Schiffsschlossers und fuhr als Maschinist von Sassnitz aus mit Fischtrawlern auf See. Zum andern umreißt er die Wirkmacht der Möwen in der Kultur. Kein Wunder, denn mit Anfang 20 taucht er in die literarische Welt ein, geht ans Theater in Ost-Berlin – damals Hauptstadt der DDR – und lebt bis heute als Regisseur und Autor In Berlin.
Möwenleben
Der Flug der Möwen, ihr unterhaltsames Sozialverhalten und all die abergläubischen Zuschreibungen haben es bereits dem jungen Holger Teschke angetan. Bis heute beobachtet er sie. Mal zielgenau, mal versunken und nachdenklich. Zum Beispiel beschreibt er, wie sich vis-à-vis seiner Wohnung mitten in Berlin zwei Silbermöwen als Paar zusammenfinden, ein Nest bauen und Junge großziehen. In seiner alten Heimat auf Rügen fällt ihm auf, wie Möweneltern vom bettelnden Nachwuchs unter Druck gesetzt werden und bestaunt die Fischbrötchen stibitzenden Artgenossen.
Allerlei Details erfahren wir in dem Abschnitt „Das Jahr der Silbermöwen“. Denn der Autor hatte sich pandemie-bedingt ausgiebig über die naturwissenschaftliche Literatur hergemacht, bevor er die silbrig-weißen Vögel endlich wieder an der Meeresküste besuchen konnte. Wichtige Namen wie der Verhaltensforscher Niko Tinbergen oder der Helgoländer Vogelwart Friedrich Goethe fallen in diesen Abschnitt und werden in die Möwenforschung eingeordnet. Kopfschüttelnd blickt Holger Teschke zurück auf Zeiten, in denen Möwen aus Lust und Laune oder wegen ihrer weißen Federn geschossen wurden.
Von Berlin in die Welt
Seit der Schiffsschlosser sein Handwerk hingeschmissen hatte, war sein Leben mit Literatur und Theater ausgefüllt. Als Regieassistent arbeitete er zunächst am Berliner Ensemble und lernt angesagte Theatermacher und Schriftsteller kennen. Das lag, wie wir erfahren, auch an dem berühmten Club der Gewerkschaft Kunst Die Möwe, in dem sich Künstler aus Ost und West versammelten.
Auf Möwen stößt der Autor und Regisseur Holger Teschke immer wieder, sei es auf Fahrten zwischen Berlin und Rügen im Otto-Lilienthal-Museum von Anklam, auf einem Ausflugsdampfer in Wolgograd oder später bei seinen Gastspielreisen in den USA, wo er unter anderem mit Ringschnabelmöwen Bekanntschaft macht.
Schade eigentlich, dass er die hübsche Hemprichmöwe nicht irgendwo entdeckt hat. Hingegen berichtet er von seiner Begegnung mit Kappenmöwen in Hongkong. Und Erwähnung findet auch die wunderbare Dreizehenmöwe, die hierzulande nur auf Helgoland nistet.
Möwen als Mahner und Quelle der Inspiration
Holger Teschke kennt sich aus in der Literatur. Er weiß darum, in welchen Werken die Möwen kreischen und was sie uns zu sagen haben. Darüber hinaus begegnen uns Möwen auf Gemälden und in der Musik. Auch davon berichtet er.
Im Abschnitt „Möwen in den Künsten“ taucht nicht nur Johann Wolfgang von Goethe auf, sondern auch Der Mönch von Caspar David Friedrich. Außerdem lesen wir über „möwenhaltige” Werke von Joachim Ringelnatz und Christian Morgenstern, von Sarah Kirsch und Juri Sbanazki, von Edgar Allan Poe und William Shakespeare – und natürlich geht es auch um Anton P. Tschechows Theaterstück Die Möwe. Und schließlich: Was wäre ein Buch mit dem Titel Möwen ohne Bezug auf Alfred Hitchcock und den Thriller Die Vögel, der auf der Kurzgeschichte von Daphne du Maurier beruht.
Zum Ende wird es in dem 120 Seiten schmalen Büchlein Möwen sogar noch etwas besinnlich. Holger Teschke zitiert das plattdeutsche Lieblingslied seiner (und auch meiner) Mutter: Ostseewellen von Martha Müller-Grählerts:
Wo die Ostseewellen trekken an den Strand,
Wo de geele Ginster bleugt in’n Dünensand,
wo de Möwen schriegen, grell in’t Stormgebrus,
Dor is mine Heimat, dor bin ik to Hus.
Ganz am Schluss – unmittelbar vor den sechs doppelseitigen Möwenporträts – kommt dann das dicke Ende. Da beklagt der Autor den drohenden Verlust von Seevögeln, deren Lebensraum wir auf vielfältige Weise zerstören. Er mahnt:
Wie viele Möwen durch Kriege und andere menschengemachte Katastrophen sterben werden, erfasst keine Statistik. Je schneller das große Artensterben vor sich geht, desto lauter die Beteuerungen von Wirtschaft und Politik, jetzt endlich umzusteuern und darüber auf dem nächsten globalen Gipfel ernsthaft zu debattieren. Aber mit dem Tod lassen sich seit der Antike bessere Geschäfte machen als mit dem Leben. Nichts steigert Nachfragen und Umsätze schneller als Kriege, und nirgends werden mehr Gewinne gemacht als beim Wiederaufbau.
Möwen
Autor: Holger Teschke
Verlag: Matthes & Seitz
Jahr: 2024
Der Besprechung möchte ich einen Hinweis auf den Podcast zum Buch anfügen. In dem kommt die Möwenexpertin Dorit Liebers-Helbig ausgiebig zu Wort, deren ornithologische Expertise Teschkes Werk über Möwen in Sachen Artenkenntnis aus meiner Sicht beeindruckend bereichert.
Den Podcast bewerte ich als ebenso hörens -, wie das Buch lesenswert.
Hier ein Link:
https://www.podcast.de/episode/639355160/29-moewen-
begreifen-mit-dorit-liebers-helbig-holger-teschke
Ein wunderbarer Hinweis. Dorit Liebers ist mir eine gute Bekannte, und ich möchte hinzufügen, dass am 10. Oktober um 19 Uhr eine Lesung mit Holger Teschke und Dorit Liebers im Meeresmuseum von Stralsund stattfindet. https://www.deutsches-meeresmuseum.de/veranstaltungen/event/show/30630