Was treiben unsere Störche im Winter, wenn die Brutzeit hierzulande beendet ist und die Jungstörche schon gut fliegen, starten und landen können?
In der Schule lernte ich, dass hiesige Störche im Herbst über die Straße von Gibraltar oder über den Bosporus nach Südafrika ziehen und im Frühjahr auf derselben Route zu uns zurückkommen. Das klang, als gäbe es daran wirklich nichts zu rütteln.
Später erfuhr ich jedoch, dass viele Störche, die Afrika auf der Westroute ansteuern, in Spanien überwintern, andere nicht weiter als bis Marokko fliegen.
Sie ergänzen dort die einheimischen Adebars, die im Frühjahr auf imposanten Moscheen, sterilen Elektromasten und vieltürmigen Berberburgen brüten. Häufig nistet dort nicht nur ein Storchenpaar pro Gebäude, sondern es wurden viele Nester nah beieinander gebaut. Ein solches kolonieartiges Brüten kennen wir bei uns nicht.
Alte und neue Reiseunlust
Und nun das: Mitten im Dezember veröffentlichen deutsche Tageszeitungen Bilder von Störchen im bayerischen Schnee, also von Störchen, die nicht wirklich nach Süden gezogen sind, sondern den Winter wohl diesseits der Alpen verbringen werden.
Solche Fotos und Titel wie „Schluss mit reiselustig“, sorgen derzeit für einiges Staunen. Auch bei mir. Allerdings ist das keine ganz neue Entwicklung. Schon 2015 blieben rund 200 Störche in Süddeutschland hängen. Dieses Jahr sind es 250, weiß der bayerische Landesverband für Vogelschutz (LBV), der die Geschichte von den Weißstörchen im Schnee publik gemacht hat.¹
Jetzt werden all die Storchexperten natürlich immer wieder gefragt, wie sie sich die neue Reiseunlust erklären können: Unter welchen Umständen lohnt es sich, einige tausend Kilometer Flug und eine Menge Energie zu sparen und sich diesseits der Alpen durchzuschlagen? Aber nichts Genaues weiß man. Außer … mehrere Faktoren spielen eine Rolle, wobei wohl mal die einen, mal die anderen bedeutsam sind.
- Es wird nur selten dauerhaft so kalt wie früher. Und wenn der Frost nicht lange anhält, reicht das eigene Federkleid als Kälteschutz. Störche sind ja keine kleinen Singvögel, die rasch viel Wärme verlieren.
- Auch im Winter finden Störche oft genug Fressbares, weil an milderen Tagen zum Beispiel viele Feldmäuse unterwegs sind.
- Der Drang, Ende Juli nach Südosten oder Südwesten zu ziehen, hängt auch von sozialen Faktoren ab: Was machen die Kollegen und Kolleginnen? Bleiben einige Tiere am Standort, schließen sich andere oft an.
- Störche aus Aufzuchtstationen wissen außerdem, wo es notfalls Futter gibt, und lassen sich womöglich nicht so stark von Artgenossen mitreißen, wenn der Wegzug ins Winterquartier beginnt.
Man kennt die sogenannte Zugunlust auch umgekehrt: Manche Störche bleiben im Frühjahr in Afrika, südlich des Äquators und brüten dort.
Das schrieb der berühmte Ornithologe Erwin Stresemann bereits im Jahr 1943, berichtet Rudolf Mell (Der Storch, Neue Brehm-Bücherei, 1951), und es zeigt, wie flexibel dieses angeborene Verhalten ist.
Ich könnte an dieser Stelle eine lange Abhandlung darüber schreiben, wie falsch und wie verkürzt es ist, immer wieder einen Gegensatz von „angeboren“ und „erlernt“ aufzumachen.
Meist handelt es sich um angeborene Verhaltenstendenzen. Und es gibt eine Menge Schrauben, an denen die Umwelt drehen kann.
Dieser Einfluss von aktuellen Erfahrungen auf das angeborene Verhalten passen ein Tier erst richtig in seine Umwelt ein. Und das Zusammenspiel zählt zu den Kernfragen von Verhaltensbiologen, auch der ganz frühen wie Konrad Lorenz und Niko Tinbergen.
Diese jeweilige Feinjustierung macht Tiere in einer nicht-normierten Umwelt überlebensfähig und macht zugleich aus ihnen Individuen mit Eigenarten, Vorlieben, einer Geschichte.
Jedes Tier ein Individuum
Dass nicht alle Störche im Winter in den meist angenehm temperierten und nahrungsreichen Süden fliegen müssen, dämmerte mir das erste Mal, als ich Anfang Februar – wiedereinmal im Nuthe-Nieplitz-Niederung unterwegs – einem Storch begegnete. Er stand auf einem Horst, wohl in Erwartung eines Partners oder einer Partnerin.
Dieser frühe Horstbesetzer war Paulchen – wie ihn Einheimische nennen. Gerechterweise muss man sagen, es könnte auch eine Paula sein. Denn bei Schreitvögeln sind sich die Geschlechter sehr ähnlich, vor allem außerhalb der Brutzeit.
Jedenfalls hat dieser Storch eine besondere Geschichte, die mit einer Verletzung seines Schnabels begann. Denn weil ihm fast drei Zentimeter seiner Schnabelspitze fehlten, hat ein Falkner den Weißstorch in seiner Auffangstation für Wildvögel durchgefüttert. Das ist einige Jahre her und nicht weit entfernt von dem Ort, wo der frühe Horstbesitzer mir auffiel.
Paulchen-Paula verbringt das ganze Jahr in „seinem Dorf“ oder der weiteren Umgebung, wo er offenbar leicht ein warmes Plätzchen findet und sich in der Auffangstation Fressbares abholen darf. Sein Ziehvater hält übrigens nichts davon, Wildvögel längerfristig durchzufüttern oder an menschliche Nähe zu gewöhnen. Bei seinem früheren Pflegling macht er – aus guten Gründen – eine Ausnahme.
Solche Lebenserfahrungen haben Folgen: Paulchen-Paula zieht nicht weg, verpaart sich offenbar nicht erfolgreich und seine Fluchtdistanz zu Menschen ist geringer als üblich. Als ich ihm letzten Sommer begegnete, musste ich mein Teleobjektiv abschrauben, so nah ließ er mich an sich heran. Dass sein Schnabel inzwischen gut zurechtgewachsen ist, ist offensichtlich – aber auch, dass der Oberschnabel noch leicht verkürzt ist.
¹ Der LBV hat hier neuere Beobachtungen zusammengetragen: Überwintern in Bayern.
Storch = Weißstorch | Cigogne blanche | White stork | Ciconia ciconia
Liebe Elke, wieder tolle Beobachtungen und interessante Informationen. Ich freue mich schon auf die nächsten Einblicke in die Vogelwelt im nächsten Jahr!