Wintergäste aus der Tundra

Auf einem Feld viele hundert Gänse und dahinter stehen hohe Bäume.
Hier rasten einige tausend Feldgänse auf Wiesen und Ackerland.

Wenn ich im brandenburgischen Havelland oder auch an der Oder unterwegs bin, dann sehe ich sie oft links oder rechts der Straße sitzen, auch mit etwas Abstand am Fahrradweg: große bis riesige Trupps von grau-braunen Feldgänsen.

Von vielen Ausflüglern werden sie nicht weiter beachtet, denn es sind ja nur „irgendwelche Gänse”. Wer sich jedoch vorstellen kann, woher sie kommen – dass es Wintergäste aus fernen Tundragebieten sind –, der sieht die Sache sicher anders. Ich jedenfalls beobachte die unermüdlich schnatternden Vögel immer wieder mit Begeisterung. Und was für ein Ereignis, wenn sie zum Fressen auf ihren sogenannten Äsungsflächen zur Landung ansetzen.

Landende Blässgänse

Vom kleinen Unterschied

Gans ist nicht gleich Gans. Manche Arten sind gut zu identifizieren, wie die kontrastreichen Weißwangengänse oder die dunklen Ringelgänse. Aber die grau-braunen Vertreter unter den Gänsen machen einem die Zuordnung schwer: Läuft da eine Grau- oder Blässgans? Eine Saatgans, oder sogar eine Kurzschnabelgans?

In diesem Blogpost stehen die Blässgänse im Vordergrund. Es sind typische Feldgänse, und sie sitzen ihrem Namen entsprechend meist auf Feldern oder auf Wiesen. Wegen der leuchtend weißen „Stirn“ sind sie am Boden und im Flug gut zu erkennen, auch wenn sich oft andere Gänsearten unter die Blässgänse mischen.

Bläss- und Graugaense beim Äsen auf der grünen Wiese
Diese Wiese ist voll äsender Blässgänse, darunter sind auch Graugänse, wie die vier Vögel im Vordergrund.
Vier Gänse fliegen mit ausgebreiteten Schwingen am blauen Himmel
Vier Blässgänse: Alle mit weißer „Blässe“, aber nur die adulten Vögel (links) haben bereits die typische Streifenzeichnung am Bauch.

In den Gänsegruppen, die im Oktober oder November in Brandenburg auftauchen und sich in großer Zahl auf Wiesen und Feldern niederlassen, sind oft auch Graugänse und Saatgänse zu finden, die sich jeweils im Gefieder und der Beinfarbe von den Blässgänsen unterscheiden. Manche Individuen dieser beiden Arten leben ganzjährig bei uns, während die Blässgänse im zeitigen Frühjahr in den hohen Norden – insbesondere in das Gebiet der russischen Tundra – fliegen, um dort zu brüten.

Vier Graugänse mit gelbem Schnabel stehen auf einem Feld beisammen
Graugänse haben keine „weiße Stirn“ und ihre Beine sind rosa, nicht orange wie bei Saat- und Blässgänsen.
Eine Saatgans mit dunklerem Gefider steht bei den Graugänsen.
Rechts geht eine Saatgans. Ihre Beine sind orange, nicht rosa. Kopf und Hals sind dunkler als bei Graugänsen.

Dass Blässgänse – auch Blessgänse, Bleßgänse oder Bläßgänse geschrieben – auf ihrem Zug vom Nordpolarmeer zu uns küstennah über das Baltikum fliegen, haben langjährige Beringungsstudien und auch besenderte Vögel gezeigt. Die beiden folgenden Grafiken sind dem wunderbaren Buch Atlas des Vogelzugs (2014, Aula-Verlag, S.65) entnommen. Es gibt die Zugrouten aller Vogelarten, die in Deutschland brüten oder als Gäste kommen, anschaulich wieder.

Grafik von Nordeuropa zeigt mit Pfeilen wohin Blässgänse ziehen
Links: Im Herbst und Frühjahr ziehen Blässgänse eine enorme Strecke. Rechts: Im Winterhalbjahr pendeln sie oft zwischen Ostdeutschland und der milderen Nordseeküste.

Die Forscherteams von den Beringungszentralen und viele ehrenamtliche Helfer haben noch etwas bestätigt: Die Blässgänse sind im Winter zwischen Brandenburg und den Niederlanden inklusive Belgien viel unterwegs. Sie pendeln je nach Bedarf von Ost nach West. Vor allem wenn es bei uns zu kalt wird, die Seen zufrieren und eine feste Schneedecke die Felder überzieht, dann weichen sie ins mildere Klima an der Nordsee aus.

Großartige Begegnung

Übersicht für das Naturschutzgebiet
Schautafel nahe Netzen – und unweit von Kloster Lehnin

In diesem Jahr sind die Seen in Brandenburg bisher nicht zugefroren, und das Klima ist auch im Februar milde. Das hat für die Vogelbeobachtung durchaus Vorteile. Auf einem sogenannten Flachsee, dem Streng, der zum Europäischen Vogelschutzgebiet am Rietzer See nahe Netzen gehört, sah ich viele tausend Blässgänse rasten.

Und dazu gab es eine faszinierende Winterlandschaft bei blauem Himmel. (Fotos mit einem Klick vergrößern!)

Ein wahnsinniges Geschnatter empfing mich, als ich den PKW am Rand des Schutzgebietes abstellte, denn ungeheuer viele Feldgänse hatten sich auf einer Wiese am Emsterkanal, der hier gleich mehrere Seen verbindet, niedergelassen. Und es kamen nach und nach immer mehr.

Eine Holzhütte steht verborgen zwischen Büschenund Bäumen auf einem Feld.

Am Streng, der erst in den letzten zwei Jahrzehnten durch Vernässung entstanden ist, steht eine wunderbare Beobachtungshütte, von wo ich durch das Fernglas mehrere Kranichpaare, Sturmmöwen, Höckerschwäne, Graureiher und verschiedene Entenarten beobachten konnte: Schellenten und Pfeifenten, Stockenten, Tafel– und Reiherenten.

Unterschiedlich gefärbte enten schwimmen auf dem blauen Seewasser, dahinter wächst gelbliches Schilf.
Hier paddeln mindestens fünf verschiedene Entenarten.

Aber dann rauschte es plötzlich über mir, und viele hundert Blässgänse erhoben sich von ihrem Äsungsplatz, überflogen den Emsterkanal, der zum Rietzer See führt, kreisten in der Luft und peilten den nahen Streng an. Was die Störung ausgelöst hat, weiß ich leider nicht – vielleicht zog ein Seeadler vorbei, oder ein Fuchs sorgte für Unruhe.

Die aufgescheuchten Blässgänse wissen noch nicht, ob sie auf den nahen Flachsee fliegen oder auf ihre Äsungsflächen zurückkehren sollen.

Zwischen Wasser und Wiese

Es ist kein Zufall, dass Gänse sich meist auf Flächen in der Nähe von Gewässern aufhalten. Bei Gefahr sind sie dort sicher. Und wie die Enten, die auch tagsüber auf dem Streng rudern, fliegen sie notfalls aufs Wasser.

Manchmal haben sie zum „Wassern” viel Platz. Manchmal müssen sie gut navigieren, um zwischen anderen Wasservögeln eine Lücke zu finden. Und manchmal müssen die kleineren Wasservögel ausweichen. Aber: Die Enten hatten sich in diesem Fall sowieso bereits in den hinteren Bereich des Sees verzogen.

Fliegende Blässgänse vor blauem Himmel.
Aufgeregtes Auffliegen.
Vor Wald und Schilf fliegen einige hundert Blässgänse.
Zielgerichtet zum See, dem Streng.
Blässgänse landen mit langen Beinen und flügelschlagend auf dem See.
Landung auf dem See: Ein unglaubliches Schauspiel, wenn große Trupps wassern.

Anschließend schwammen die Gänse nah beieinander, auffällig dicht gedrängt, in der Mitte des Sees. Aber nach etwa einer Viertelstunde flogen die ersten Vögel – nun aber in kleineren Gruppen – wieder auf und an der Beobachtungshütte vorbei auf ihre Äsungsfläche.

Mehrere hundert Blässgänse auf dem blauen Wasser des Streng, der von Schilf umsäumt ist.
Dicht gedrängt schwimmen die aufgescheuchten Blässgänse auf dem Streng.

Das Fluchtverhalten der Blässgänse hat Jules Philippona ausführlich beschrieben (Die Blessgans, Die Neue Brehm-Bücherei, 1972, S.71), und er betont, dass der Mensch – insbesondere der Jäger – ein Hauptstörfaktor ist. Um die Wintergäste nicht aufzuscheuchen, sollten wir ihre Fluchtdistanz von 100 m respektieren. Die weitgereisten Vögel verlieren viel Energie, wenn sie

… fast an jedem Tag einige oder mehrere Male gestört werden und dann oft minutenlang in der Luft kreisen oder sogar den Äsungsplatz verlassen, um auf dem Wasser Ruhe zu finden.

Während Gänse am Tag vor allem fressen, sich putzen und ruhen, verbringen sie die Nacht auf dem Wasser, wie etwa die Singschwäne. Nur wenn tagsüber Gefahr droht, retten sie sich dorthin. Wie das aussieht, illustriert dieser Videoausschnitt.¹

Wassern auf dem Flachsee

Im März verlassen uns die Blässgänse

Zurück vom See zu den nahen Äsungsflächen ging es in kleinen Trupps. Da fliegen dann die Familien und nahe Verwandte grüppchenweise gemeinsam.

Sechs fliegende Blässgänse, die vorletzte muss sich erleichern, darum fliegen dunkle Häufchen am Himmel
Ein kleiner Trupp auf dem Rückflug. Und eine Gans muss sich mal kurz erleichtern.

Auch ihr Landeanflug auf der Wiese hatte wieder seinen Reiz, wie schon das erste Video gezeigt hat: Die Neuankömmlinge, die vom See eintreffen, müssen in der Luft jonglieren, um ein passendes Plätzchen zwischen denen zu finden, die erst gar nicht weggeflogen sind, und denen, die bereits wieder gelandet sind. – Und das Geschnatter nahm kein Ende.

Mit langen Beinen und flügelschlagend segeln die Gänse über der wiese, auf der schon viele sitzen.

Ich bin sehr gespannt, ob sich die Blässgänse noch – oder wieder – im Bereich des Schutzgebietes am Rietzer Sees aufhalten, wenn ich das nächste Mal komme. Es ist ja ein bekannter Rastplatz. Sie könnten jedoch in Richtung Niederlande oder Belgien abgeflogen sein, oder auch in Richtung Oder. Und spätestens im März machen sie sich auf, um am Rand des Nordpolarmeers – teilweise jenseits des Urals – zu brüten. Fantastisch!

¹Mit der Schärfe meiner Videos und Fotos auf dieser Webseite bin ich nicht immer zufrieden, aber ich muss die Dateigröße stark minimieren, damit Fotodateien zügig hochgeladen werden und den Blog nicht sprengen.

Blässgans | Oie rieuse | Greater White-fronted Goose | Anser albifrons



Liebe Fans meiner Fotos, ich freue mich, wenn euch das eine oder andere Foto so gefällt, dass ihr es von meiner Website herunterladen möchtet. Allerdings sind alle mit ©Copyright geschützt. Darum fragt mich bitte per E-Mail vor jedem Download. Elke Brüser

3 Kommentare zu “Wintergäste aus der Tundra

  1. Oh, die Blässgänse sind es! Danke für diese Fotos und Infos. Toll auch das Flugfoto nebst Ballastabwurf. 😉
    Wir haben dann tatsächlich diese Blässgänse gestern bei uns in Westfalen an der Ruhr bzw. in den Ruhrwiesen bei Wickede/Arnsberger Wald gesehen. Alle ein wenig möppelig (wie man hier zu sagen pflegt) und fidel.

  2. Liebe Elke,
    dieser letzte Bericht über die Blässgänse hat mich außerordentlich gefreut und interessiert. Sehr informativ !! Bei den momentanen Temperaturen werde ich demnächst per Rad von Brandenburg aus dorthin fahren. Hoffe, sie dort noch anzutreffen. Am Großen Graben waren im Januar seeehr viel Nonnengänse nebst vielen Blässgänsen zu sehen. Singschwantage fielen dieses Jahr an der Oder aus – mangels Erscheinen. Die Polder kann man jetzt sogar bis runter zur Oder laufen. Aber Wildgänse sind dort auch viele zu beobachten.

    1. Liebe Gabriele, schön von dir zu lesen. Bitte schreibe mir, wenn du in der Umgebung des Rietzer Sees warst. Es gibt dort ja insgesamt drei Beobachtungsstände – auch der im Norden soll interessant sein. Und zur Oder bin ich dieses Jahr erstmals nicht gefahren, denn ich hatte befürchtet, dass die Singschwäne bei diesen milden Temperaturen ausbleiben. Also: viel Erfolg!

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