Ich möchte mich wiederholen: Wer die Gefiederten liebt und für sie Auge und Ohr hat, findet sie (fast) überall. So erging es mir zuletzt mit dem Zilpzalp, der mich an der Atlantikküste von Portugal überraschte und allerlei Fragen aufwarf. Aber der Reihe nach.
Im Sommerhalbjahr ist Deutschland mit all seinen nistenden und den Nachwuchs aufziehenden Brutvögeln noch immer eine ornithologische Fundgrube.* Wer Vögel beobachten möchte, kann das hierzulande zur Genüge tun. Auch der Winter hat seinen Reiz, wie das Buch Wintervögel beweist.
Dieses Jahr hatte es mich kurz vor Weihnachten – allerdings keineswegs zum „Birden“ – in den Süden verschlagen, nach Lissabon. Dort gab es einige Überraschungen mit Federkleid, darunter waren Zilpzalpe.
Einen ihrer Vertreter hatte ich im Frühjahr 2023 in der Nuthe-Nieplitz-Niederung bei Berlin beobachten können. Er war gerade aus seinem Überwinterungsgebiet, das am Mittelmeer und teils jenseits der Sahara liegt, zurückgekehrt und wollte offensichtlich in Brandenburg für Nachwuchs sorgen.
Und nun stieß ich bei Lissabon, genauer gesagt in dem teils mondänen Küstenort Cascais, zufällig auf Zilpzalpe, und zwar dort, wo der breite Tejo – auch Tajo genannt – in den Atlantik mündet.
Obwohl es hier stürmisch und im Winter rau sein kann, ist das Klima für diese eher unscheinbaren Vertreter aus der Gattung der Laubsänger günstig und die Vegetation steht zum Teil in Blüte.
Das Zusammentreffen
Auf einem Spaziergang an der Atlantikküste und – wie bei meiner letztjährigen Eisvogelbegegnung in Nizza – nur mit einer touristischen Kamera ausgerüstet, sah ich im Augenwinkel plötzlich kleine Singvögel auffliegen.
Sie waren in dem schönen Garten der Villa Casa de Santa Maria versteckt gewesen, jenseits einer Umfriedung. Aber ich hatte Glück, und Warten lohnt sich fast immer: Die Vögel kehrten bald zu den Pflanzen zurück, die sie eilig verlassen hatten. Es handelte sich um Zilpzalpe, die unter anderem an ihrem Überaugenstreif, der oliv-grünen Oberseite und der weißlich-gelben Unterseite zu erkennen waren.
Zunächst vermutete ich, dass sie an den Pflanzen – rotblühende Aloen (Aloe vera) – Insekten oder Spinnen entdeckt hatten. Denn der Zilpzalp ist bekanntlich kein Körnerfresser, sondern ein Insektenfresser. Darum muss er aus nördlichen Brutgebieten südwärts ziehen, wenn die krabbelnden und fliegenden Lebewesen sowie deren Eier oder Larven im Winterhalbjahr fehlen.
Aber krabbelndes oder herumschwirrendes Getier sah ich vor Ort nicht und fand auch bei näherer Betrachtung der Fotos keine Hinweise. Verräterisch ist hingegen, was sich auf den Originalfotos erkennen lässt, die aber in diesem Blog zu viel Speicherplatz fressen und nicht verwendbar sind: Ihr Schnabel und die feinen Federchen drumherum sind rosa getönt. Könnte es sein, dass die Laubsänger den süßen Nektar der Blüten gesucht oder vom eiweißreichen Pollen der Staubblätter gepickt hatten?
Kleine Literaturrecherche
Deutsche Ornithologen mit dem Fokus auf die heimische Fauna äußern sich in ihren Publikationen zu dieser Frage nicht. Kein Wunder, in der Brutzeit besteht die Nahrung des Zilpzalps aus Insekten und ähnlichem Getier. Auch das Handbuch der Vögel Mitteleuropas hilft nicht wirklich weiter. Dort ist über pflanzliche Kost wenig Konkretes zu lesen.¹ Schließlich stieß ich im englischsprachigen Klassiker Handbook of the Birds of the World ² auf folgende Bildunterschrift (Übertragung E. Brüser), Seite 538
Several species of Old World warbler have been observed feeding on pollen and nectar. This habit is usually noted during migration periods, and it has been explained as a means to built up energy after or proceding long distance flights. Certainly, migrant Phylloscopus warblers have been observed visiting the flowers of several species, including eucalyptus trees, aloes and capers.
Bei mehreren Arten aus der Familie Grasmückenartigen** wurde beobachtet, dass sie Pollen und Nektar fressen. Dieses Verhalten wurde in der Regel während langer Zugperioden gesehen und als ein Mittel verstanden, nach oder vor langen Flugdistanzen Energie aufzutanken. Definitiv wurden ziehende Laubsänger beobachtet, die Blüten von verschiedenen Pflanzenarten besuchten, etwa Eukalyptusbäume, Aloen und Kapern.
Abgebildet im Handbook of the Birds of the World ist übrigens ein Kanarenzilpzalp (Phylloscopus canariensis), der ganzjährig in dem Archipel lebt und also kein ausgehungerter Zugvogel ist, aber auf dem Foto dennoch an einer Bananenblüte knabbert. Bei Bananenstauden sind die einzelnen Blüten röhrenförmig, wobei Kelch- und Kronblätter den weiblichen Griffel samt Narbe und zudem die männlichen Staubblätter mit dem Pollen umgeben. Da diese pflanzlichen Geschlechtsteile teils aus der Blüte herausragen, sind sie für Vögel durchaus zugänglich.
Den Bananenblüten sind die Blüten von Aloe vera ähnlich. An ihnen machten sich die portugiesischen Zilpzalpe ganz offensichtlich zu schaffen.
Und das ist keinesfalls verwunderlich, denn der Pollen beziehugnsweise de Blütenstaub ist energiereich – so wie Insektennahrung auch.
Schnell verfügbare Energie liefert zudem der zuckersüße Nektar in den Blüten, sofern er für die Vögel erreichbar erreichbar ist.
Zwei Arten: Zilpzalp und Iberienzilpzalp
Und nun wird es kompliziert: In Portugal haben wir es im Winterhalbjahr mit zwei verschiedenen Zilpzalp-Arten zu tun. Der Grund:
Zilpzalpe aus Deutschland und aus benachbarten „kühlen“ Regionen – also Vögel der Art Phylloscopus collybita – fliegen unterschiedlich weit, um zu überwintern. Ein Teil durchstreift die Iberische Halbinsel und erreicht Nordafrika, ist sogar jenseits der Sahara anzutreffen. Ein anderer Teil bleibt jedoch in Portugal oder Spanien hängen.
Dort ist eine weitere westeuropäische Art vertreten, der Iberienzilpzalp oder Phylloscopus ibericus.³ Diese Vögel leben meist ganzjährig auf der Iberischen Halbinsel. Von ihnen gibt es tatsächlich Berichte, dass sie sich wie der Kanarenzilpzalp über Blütennahrung hermachen.
Da beide Arten einander extrem ähnlich sehen und am ehesten gesanglich zu unterscheiden sind, kann ich nicht sicher sein, wen ich da beobachtet hatte. Ich vermute jedoch, dass es sich um den Iberienzilpzalp handelte, der die Mittelmeerflora gut kennt und Aloen gewohnheitsmäßig besucht. Dass ein Vogel, der etwa in Brandenburg brütet und Junge großzieht, dermaßen geschickt und zielgerichtet an Blütenständen der Aloe agiert, scheint mir weniger wahrscheinlich.
Lange konnte ich die geschäftigen Vögel nicht bestaunen. Die rund 8 Gramm leichten Zilpzalpe beider Arten sind unruhige, im ursprünglichen Wortsinn „flatterhafte” Lebewesen. Womöglich fühlten sie sich von der neugierigen Biologin samt Kamera gestört, oder sie suchten nur nach einer neuen, ergiebigeren Nahrungsquelle. Denn die Fotos lassen erkennen, dass die pollentragenden Spitzen der rosa Staubblätter bei fast allen Blüten bereits fehlten.
* Allerdings übersehe ich nicht, dass bei vielen Arten, insbesondere in der Feldflur, die Bestände eingebrochen sind und weiter einbrechen.
** Diese Gruppe umfasste früher auch alle Laubsänger wie die Zilpzalpe, heute bilden die Laubsängerartigen (Phylloscopidae) eine eigene Familie, gelten aber als Naheverwandte der Grasmückenartigen (Sylviidae).
¹ Urs N. Glutz von Blotzheim und Kurt M. Bauer, Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 12, Teil II., AULA-Verlag, Wiesbaden 1991, S. 1275
² Josep del Hoyo, Andrew Elliott, David Christie (Hrsg.), Handbook of the Birds of the World, Lynx Edicions, Barcelona 2006, Band VIII)
³ Der Iberienzilpzalp wird im Handbuch der Vögel Mitteleuropas auf Seite 1285 noch als Unterart und als Phylloscopus collybita brehmii (Homeyer 1871) geführt, jedoch in der Fußnote entsprechend benannt. Erst Ende der 1990er Jahre wurde auf Grund genetischen und Gesangs-Analysen diesem Laubsänger der Artstatus zuerkannt.
Iberienzilpzalp | Pouillot ibérique | Iberian Chiffchaff | Phylloscopus ibericus
Zilpzalp | Pouillot véloce | Chiffchaff | Phylloscopus collybita
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