Der Distelfink ist heute besser bekannt unter dem Namen Stieglitz. Es handelt sich hier aber in der Tat um dieselbe Vogelart, mit wissenschaftlichem Namen Carduelis carduelis. Früher waren auch deutsche Bezeichnungen wie Distel-Zeisig, Distler oder Distelvogel üblich. Und während der Name Stieglitz auf seinen Lockruf „stigelitt” anspielt, bezieht sich der Name Distelfink auf seine Leibspeise: die Distel, die im Lateinischen cardus heißt. Kürzlich machte mir der farbenprächtige Fink eine besondere Freude: Ich entdeckte ihn endlich mal auf einer Distel, und ich konnte sogar beobachten, wie er von ihr naschte.
Wie so oft, war dies eine unerwartete Beobachtung. Eigentlich wollte ich am Rand der Lagune von El Rocio nochmals einen Blick auf Löffler werfen, als vor mir plötzlich eine Handvoll auffällig gefärbter Vögel in die purpurrot blühenden Disteln flog. Es waren Mariendisteln der Art Silibum marianum, wie mir mein uraltes, aber sehr bewährtes Parey Blumenbuch bestätigte. Und es handelte sich bei den Vögeln tatsächlich um Distelfinken beziehungsweise Stieglitze.
Die Vögel saßen mal auf der einen Blüte, mal auf einer anderen. Zupften hier und zupften dort. Verschwanden praktisch zwischen den Mariendisteln, tauchten plötzlich wieder auf, hoben ab …
Dieses unruhige Verhalten hat passend und liebevoll schon der großartige deutsche Vogelkundler Johann Friedrich Naumann in seinem Hauptwerk¹ vor über 100 Jahren beschrieben. Unter der Überschrift Eigenschaften lese ich in seiner Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas, Seite 295
Der Distelzeisig ist ein gar liebliches Geschöpf. Seine angenehme Gestalt, die schöne Zeichnung und die herrlichen Farben seines sanften Gefieders sind es nicht allein, was wir an ihm bewundern; er ist auch ein außerordentlich lebhafter, unruhiger, flinker, kecker, listiger und gelehriger Vogel, ein guter fleißiger Sänger, rascher, gewandter Flieger, ein geschickter Kletterer, aber kein guter Fußgänger.
Im meiner relativ aktuellen Ausgabe des Handbuch der Vögel Mitteleuropas² wird derselbe Sachverhalt auf Seite 634 hingegen — inhaltlich identisch aber über 100 Jahre nach dem „Naumann” — recht trocken formuliert,
Einer der lebhaftesten und unruhigsten Finkenvögel. Fällt im Trupp durch den häufigen fliegenden Wechsel einzelner Individuen von Samenstand zu Samenstand, aber auch zwischen Krautschicht oder Stauden und nahen Leitungsdrähten oder Baumkronen oder durch kurze Rundflüge des ganzen Trupps auf. Diese artspezifische Unrast wird durch die sie begleitenden hellen Flugrufe und das kontrastreich bunte Gefieder noch auffälliger.
Auch die spanischen Stieglitze oder Distelfinken waren unglaublich munter – so wie ich es hierzulande natürlich auch schon beobachten konnte. Allerdings ermöglichte mir die milde Abendsonne ein paar schöne Fotos. Natürlich vor allem dann, wenn die Vögel sich auf einer der Blüten niedergelassen hatten, daran knabberten, sie kurz inspizierten oder sich offenbar einen kurzen Überblick über benachbarte Blüten verschafften.
Was ich aber nicht verraten kann, das ist das biologische Geschlecht der Vögel. Denn männliche und weibliche Distelfinken sehen sich sehr ähnlich, mit anderen Worten: Der Geschlechtsdimorphismus ist gering und weitgehend auf innere Organe beschränkt.

Die auffällige rote Gesichtsmaske haben sowohl weibliche als auch männliche Distelfinken. Bei letzteren ist sie etwas größer.
Attraktiv für den Distelfink
Die Frage ist natürlich, was die Finken zu den Disteln gelockt hatte: Was suchten sie an den Blütenständen? Insekten oder Spinnen? Oder doch vielleicht Samen? Aber wo würden diese stecken? Vor allem: Die Mariendisteln blühten ja noch, schienen nicht abgeblüht zu sein.
Über die Distelblüte
Die Blüten von Korbblütlern – in der Botanik auch Compositae oder Asteraceae genannt – sind wie bei der purpurfarbenen Mariendistel aus vielen einzelnen, röhrenförmigen Blüten zusammengesetzt. Sie stehen gemeinsam auf einem Boden, der etwa bei Sonnenblumen scheibenförmig geformt oder aber als Körbchen ausgebildet ist. Das Körbchen finden wir bei der Mariendistel und beispielweise bei der Artischocke. Die zusammengesetzten Blüten werden auch Blütenköpfe genannt.
Viele, aber nicht alle der attraktiven Blütenköpfe waren noch frisch. Doch einige waren bereits bräunlich verfärbt, und besonders hier zuppelten die Vögel herum. Manchmal zogen sie einen der weißen Fäden, den sogenannten Pappus, heraus. Und das war des Rätsels Lösung: An seinem unteren Ende sitzt die Distelfrucht, ein kleiner ölreicher Same – Achäne genannt. Auf ihn hatten es der gefiederte Distelbesuch also abgesehen.
Die weißlichen Fäden sind gewissermaßen Reste von je einer der vielen Röhrenblüten und entsprechen botanisch den Kelchblättern. Ist die Frucht reif, dann fungieren die Fädchen als Flügel. So wird der Same mit dem Wind verbreitet, falls er nicht zuvor von einem Distelfinken vernascht wird …
Die Vögel ernähren sich bevorzugt von fetthaltigen Samen, die sie aus verschiedenen Distelarten, aber auch bei Huflattich und Wegwarten aus dem Blütenkopf herauszupfen. Die Samen von Pflanzenarten wie Löwenzahn und Flockenblume lassen sie sich ebenfalls gerne schmecken.
Distelfinken profitieren dabei von einem im Vergleich zu verwandten Arten relativ langen Schnabel, der es ihnen erlaubt, auch an tiefsitzende Distelsamen heranzukommen. Diese sind etwa für den Zeisig nicht erreichbar. Im Handbuch der Vögel Mitteleuropas ist die Technik des Distelfinks genauer beschrieben: Bevor er den Samen mit mehr oder wenig Anstrengung herauszieht und durch Drehbewegungen im Schnabel bearbeitet, Seite 637
… fährt er mit dem relativ langen, schmalen und spitzen geschlossenen Schnabel zwischen die Samen, öffnet den Schnabel und lockert mit raschen Seitwärtsbewegungen die Samen.
Das lässt sich im folgenden Video erkennen, wo der im Wind schwankende Distelfink den Distelsamen herauszieht und ihn dann im Schnabel bearbeitet. Leider dreht er uns den Rücken zu.
Durch spanische Passanten am Ufer der Lagune war der Vogel anfangs etwas irritiert und blickt immer wieder um sich. Zum Glück ist er nicht sogleich weggeflogen, und ich konnte sogar noch erklären, was da Interessantes zu sehen war.
¹ Johann F. Naumann: Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas, 1887-1905, 3. Aufl., Bd. III
² Urs N Glutz von Boltzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas Bd. 14.2, auf CD-ROM 3/2011 (Aula-Verlag/Vogelzug-Verlag)
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