Von Abstandsregeln und Spießen

Eine Schwalbe mit langen Spießen und zwei ohne Spieße auf einer Überlandleitung
Der adulte Vogel hat einen Schwanz mit „Spießen“, die Jungvögel nicht.

Hier geht es definitiv nicht um jene Spieße, an die vor allem Fans von gegrilltem Fleisch, Fisch oder Gemüse denken. Vielmehr geht es um die sehr langen, schmalen Federn des Schwanzgefieders von Rauchschwalben. Sie sitzen links und rechts außen am Schwanz und überkreuzen sich, wenn der Vogel sitzt. Im Flug wird daraus ein „Gabelschwanz“.

Die auffälligen Spieße helfen uns die Rauchschwalben von den Felsen- und Mehlschwalben zu unterscheiden. Und sie erleichtern es, die Jungvögel in einer Schar von Rauchschwalben zu erkennen.

Rauchschwalben in drei Reihen auf einer Überlandleitung. Blauer Himmel und ein roter Ziegelschornstein im Hintergrund.
Ziehende Rauchschwalben beim Zwischenstopp. Durch Perspektive und Zoom scheinen die Vögel nah beieinander zu sitzen. (Ein Trick der oft genutzt wird.) Frontal fotografiert, sieht die Sache ganz anders aus.

Wenn im September die Rauchschwalben sich sammeln, um in den warmen, vegatations- und insektenreichen Süden zu ziehen, dann können wir sie mit etwas Glück aufgereiht auf einer Stromleitung sitzen sehen. Manchmal sammeln sie sich auch auf einem Dachfirst. Denn immer weniger alte Überlandleitungen stehen ihnen zur Verfügung.

Zusammensitzen

Früher habe ich mich, als forschende Verhaltensbiologin, oft mit den Abstandsregeln in der Tierwelt und auch in der Menschenwelt beschäftigt.¹ Und bis heute bin ich immer wieder fasziniert, wie diese eingehalten oder auch durchgesetzt werden. Bei Vögeln spielen hier ererbte Mechanismen die Hauptrolle, bei uns sind es vor allem kulturell geformte Vorstellungen und Normen.²

Rauchschwalben sitzen mit relativ gleichen Abständen nebeneinander
Frontal fotografiert: Abstandregeln einhalten, damit kennen sich Rauchschwalben aus.

Ich schaute mir also im September die Abstände zwischen den aufgereihten Rauchschwalben gerade genauer an, als ich darüber „stolperte“, dass die große Schar vor allem aus Jungvögeln bestand: Sie waren wohl zwei, drei Monate alt.

Jung und alt

Dass so viele Vögel in diesem Schwarms auf seinem Zwischenstopp in Brandenburg noch „Frischlinge“ waren, lässt sich zum einen an ihrer Kehle erkennen: Bei den Altvögeln ist diese intensiv rotbraun, bei Jungvögeln changiert sie je nach Lichtbedingung zwischen hellbraun und rosa.

Elf junge Rauchschwalben wie auf einer Wäscheleine sitzend
Rauchschwalben dösen und putzen sich auf der Überlandleitung.

Während Lichtverhältnisse die Zuordnung zu juvenil oder adult erschweren können, machen es die Spieße des Schwanzgefieders leicht: Adulte Vögel haben lange Spieße. Meist 4 – 6 Zentimeter lang sind sie bei den Herren, während die Damen etwas kürzere Spieße haben.

Bei juvenilen Rauchschwalben fehlen die Spieße hingegen noch. Die Jungen machen zwar bei uns ihre erste Mauser durch, nachdem sie selbständig geworden sind. Aber erst wenn sie im April oder Mai aus ihrem afrikanischen Winterquartier jenseits der Sahara zurückkehren, hat ihr Schwanzgefieder erstmals zwei Spieße.

Viele sitzende Schwalben und zwei fliegende
Im Flug: ohne Spieße die Schwanzgabel des oberen Vogels, mit kurzen Spießen der untere

Mauser im Winterquartier

In Afrika machen die Rauchschwalben, alt wie jung, nämlich einen besonders gründlichen Federwechsel durch, man spricht im Gegensatz zur kleineren „Teilmauser“ von der „Vollmauser“.³ Dabei werden außer dem „Körpergefieder“ auch die Federn der Schwingen und des Schwanzes – also die Schwung- und die Steuerfedern – gewechselt.

Zeichnung des Gabelschwanzes bei Rauch- und Felsenschwalbe
H. Bub: Lerchen und Schwalben. Oben: Felsenschwalbe

Was die Tiefe der Schwanzgabel, die sich beim Fliegen zeigt, angeht, gibt es zwischen den Schwalben individuelle Unterschiede. Außerdem sind Spieße bei vier- und fünfjährigen Schwalben länger als bei den zweijährigen.

Nicht alle Schwalbenart besitzen eine deutliche Schwanzgabel. Auffällig ist sie bei Rauch- und Rötelschalben, klein bei den Mehlschwalben und nicht vorhanden bei den Felsenschwalben.

Das illustriert diese Grafik von Günther Niethammer, die Hans Bub in Lerchen und Schwalben aufgenommen hat. (Neue Brehm-Bücherei 540, 1981, S. 81 (VerlagsKG Wolf))

Vor dem weiten Trip

Zurück zu den Rauchschwalben in Brandenburg. Es fällt bei dieser Schar auf, dass die überwiegende Mehrzahl der aufgereihten Vögel erst in diesem Jahr geschlüpft ist und sich also das erste Mal auf den Weg nach Afrika machen. Es ist ein unruhiger Haufen, der bei jeder kleineren Störung auffliegt – und dann wieder zurückkehrt. Begleitet werden sie von einigen adulten Vögeln.

Und im folgenden Videoauschnitt zeigt sich: Es ist gar nicht so leicht, auf einer dünnen Leitung Halt zu finden. Also: Kein Kinderspiel!

Ziehende Gruppen mit sehr vielen Jungvögeln sind nicht ungewöhnlich, wie Else Thomé in die Salzberger Schwalbengeschichte „menschelnd“ und eben darum sehr unterhaltsam beschrieben hat. Üblicherweise treffen sich Rauchschwalben aus verschiedenen Familien zunächst an großen Schlafplätzen im Schilf und ziehen dann in kleineren Gruppen, neu sortiert, weiter Richtung Süden oder Südwesten ab. Oft bestehen diese Gruppen dann aus vielen Jungvögeln.

Von der Überlandleitung auffliegende Rauchschwalben am blauen Himmel

Abstand halten

Und wie lassen sich die recht regelmäßigen Abstände zwischen den Individuen erklären? Sie sind gewissermaßen groß genug, dass man sich gut putzen kann: also einen Flügel ausstrecken und mit dem Schnabel zerschlissene, losgelöste Federchen herauszuppeln oder ein Insekt entfernen kann. Damit sind die Jungvögel im folgenden Video beschäftigt:

Ein Zufall ist die gleichmäßige Reihung sicher nicht. Doch inwieweit die Abstandseinhaltung vererbt ist oder erlernt wird… das ist offen. Studien dazu sind mir bisher nicht begegnet.

Junge Rauchschwalben bei der Gefiederpflege
Zähneputzen steht nicht auf der Tagesordnung, aber Gefiederpflege.

 

¹ Das Thema „soziale Distanz“ hat durch die COVID-19 Pandemie ungeahntes Interesse erfahren. Und das Virus zwingt uns tradierte Regeln per Ratschlag oder Vorschrift neu zu fassen.
² Abstandsregeln sind in menschlichen Kulturen sehr unterschiedlich. Was das angeht, hat mich vor über 40 Jahren das Buch „The Hidden Dimension“ von Edward T. Hall (Neuauflage 1990) förmlich aufgeweckt.
³ Die Unterscheidung von Teil- und Vollmauser geht auf den US-amerikanischen Ornithologen Jonathan Dwight (1858–1929) zurück. Das Mausergeschehen verläuft von Art zu Art jedoch sehr unterschiedlich und nicht immer sind die Begriffe hilfreich.

Rauchschwalbe | Hirondelle de chimnée oder des granges | Barn Swallow | Hirundo rustica



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4 Kommentare zu “Von Abstandsregeln und Spießen

  1. Schwalben auf „Telegrafendrähten“ (wie man früher sagte) sind leider auch ein selten gewordener Anblick. Und trotzdem muss ich gestehen, dass ich erst jetzt bei den Fotos in diesem Blog richtig hingeguckt habe. Danke fürs Aufmerksam-Machen. Zu „vererbt oder erlernt“ beim Abstandhalten: ich schlage vor: weder noch. Wenn wir uns auf eine Bank setzen, auf der schon ein paar Leute sitzen, rücken wir keinem zu dicht „auf die Pelle“, aber setzen uns auch nicht unnötig weit weg, wenn dazu kein Platz ist. Wir entscheiden das von Fall zu Fall – wir denken – warum soll das bei den Schwalben nicht auch so sein?

    1. @Hubert Pomplun Danke für deinen Einwurf!
      Was das Abstandhalten angeht, ist die Sache kompliziert – vor allem wenn man sich dieses Verhalten über Artgrenzen hinweg anschaut. Bleiben wir bei den Tieren: Im Schwarmverhalten von Fischen und Vögeln gibt es sicher angeborene, genetisch fixierte Abstandsregeln. Beim aufgereihten Sitzen ebenfalls – dafür spricht viel. Andererseits kann man immer wieder beobachten, wie etwa eine Schwalbe, aber auch Möwen, einen Artgenossen verscheuchen, wenn er sich zu nah platziert. Oder der ursprüngliche Platzhalter fliegt weg. Ersteres ließe sich als eine Art von Bestrafung verstehen und der Jungvogel, der das vielleicht mehrmals gemacht hat, versucht nicht wieder, sich irgendwo dazwischen zu drängeln. Da also liegt die Arbeitshypothese für einen Test.
      Als Verhaltensbiologin weiß ich, dass es sich bei vielen Verhaltensweisen um eine Verschränkung von Erworbenem und Erlerntem handelt. Mit anderen Worten um ein „Sowohl-Alsauch“. So sind beim Vogelgesang Grundstrukturen angeboren, aber zusätzlich lernt etwa die Nachtigall von ihrem Vater und anderen Artgenossen viel. Und nur dann klingt das anfängliche „Gezwitscher“ später auch wie Nachtigallgesang. Es wird also quasi in die genetisch fixierte Matrix hineingelernt.

  2. Liebe Elke,
    ich muss mal wieder meine Begeisterung über deinen Blog kundtun. Vor allem darüber, dass du nicht einfach nur tolle Fotos veröffentlichst, sondern immer noch auf interessante Weise Wissenswertes vermittelst. Vielen Dank!
    Susanne

    1. Ich danke dir, liebe Susanne. Das freut mich natürlich, wenn auch die Häppchen Wissenswertes gut ankommen. Ich möchte ja nicht belehren, aber ein wenig die Augen öffnen.

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