Mit Augenmaske und Falkenzahn

Vogel mit dunklem Streifen, in dem auch seine Augen liegen, sitzt auf einem Holzscheit
Schöner Vogel mit „grimmigem“ Gesichtsausdruck durch die Augenmaske

Der Neuntöter oder Rotrückenwürger ist ein prächtiger Vogel, der sich zudem auch gut beobachten lässt. Denn er oder sie sitzt gerne auf einem Zaunpfahl oder auf einem Zweig, weit oben im Gebüsch, und hält Ausschau nach größeren Insekten, Käfern, einer kleinen Maus und anderer Beute. Auch sind sie keine unscheinbaren Winzlinge, sondern größer als ein Sperlinge und fast so groß wie ein Star.

Männliche und weibliche Vögel unterscheiden sich im Federkleid deutlich. Aber beide Geschlechter haben einen Schnabel, der mit seinem Haken an einen Falken erinnert und mit dem sie Beute fangen und zerlegen. Schön beschrieben hat dieses auffällige Merkmal Uwe Westphal in Schräge Vögel (Pala-Verlag, Darmstadt, 1915) S. 114:

Der kurze kräftige Schnabel ähnelt verblüffend dem eines Falken: Er ist an der Spitze hakenförmig gebogen und besitzt zudem einen „Falkenzahn“, eine zahnartige Ausbuchtung kurz vor der Spitze des Schnabels, die in eine entsprechende Vertiefung des Unterschnabels greift.

Und, ebenfalls auffällig: Bei beiden Geschlechtern sind die Augen in einem dunklen Streifen, dem Zügel, verborgen. Das ergibt eine schmale Augenmaske und einen „grimmigen“ Gesichtsausdruck.

Männlicher Neuntöter sitzt im Holunderbusch
Männchen: rotbrauner Rücken, grauer Kopf, rosafarbene Unterseite

Rostbraun ist der Rücken bei beiden Geschlechtern. Daher stammt der Name Rotrückenwürger, der bis heute alternativ verwendet wird.

Beim Männchen fallen das graue Haupt und der ebenfalls graue Nacken ins Auge. Und immer wieder bin ich von seinem hellen, rosa-angehauchten „Bauch“ fasziniert.

Beim Weibchen gefällt mir die „Bauch“seite wegen ihrer zarten Musterung, die Alfred. E. Brehm treffend so beschreibt (Brehms Tierleben, 1900, Bd. IV, Vögel 1, S. 492):

Das Weibchen ist… auf der Unterseite auf weißlichem Grunde braungewellt.

Weibchen des Neuntöters sitzt auf einem Holzscheit.
Weibchen: rotbrauner Rücken, brauner Kopf, cremefarbene Unterseite mit feiner Maserung

Wo sie sitzen

Der Neuntöter sitzt oft aufrecht. Und wer die Silhouette dieses typischen Würgers einmal verinnerlicht hat – ich liebe dieses Wort, das eine Art Erfahrungslernen impliziert – wird ihn am Rand von Gärten, Obstbaumwiesen und an Waldrändern leicht entdecken.

Neuntöter auf einer Warte, aber umgeben von grünem Gebüsch und schwer zu entdecken
Neuntöter auf seinem Ausguck, dem „Ansitz“ oder der „Warte“, nahe einer Wiese

Sein bevorzugtes Habitat sind wenig bewirtschaftete Mager- und Trockenwiesen, Heidelandschaften sowie Weinberge, Brachen und Agrarflächen, die durch Hecken oder Buschwerk vielfältig strukturiert sind. Oder mit den Worten von „Tiervater“ Brehm (S. 492)

Gebüsche aller Art, die an Wiesen und Weideplätze grenzen, Gärten und Baumpflanzungen sind seine Aufenthaltsorte. Dichte Hecken scheinen ihm unumgänglich notwendiges Erfordernis zum Wohlbefinden zu sein. Rottet man solche Hecken aus, so verläßt dieser Würger, selbst wenn er früher häufig war, die Gegend.

Grünes Gebüsch, kleine Bäume und eine Wiese und Zaumpfähle zum Landen
Alles was Neuntöter brauchen: Büsche, Obstbäume, Zaunpfähle als Warten und Wiese. Eingekreist sind beliebte Sitzplätze.

Dass der Bestand dieser Würgerart bis in die 1980er Jahre hinein in Ost- und Westdeutschland stark geschrumpft ist, verwundert so gesehen nicht. Denn unzählige Hecken und Knicks wurden in der Agrarlandschaft für großflächigen Anbau zerstört. Und eine Vogelart, die sich vor allem von Hummeln und Libellen, Käfern und Spinnen ernährt, leidet natürlich auch unter dem nachgewiesenen Insektensterben.

Schwarz-weiße Karte von Europa bis Südafrika mit der Zugroute des Neuntöters
Die Zugroute des Neuntöters (E.N. Panow: Die Würger der Paläarktis, Neue Brehm-Bücherei, Magdeburg, VerlagsKG Wolf)

Dennoch ist der Neuntöter bei uns ein häufiger Vogel, zumindest zwischen Mai und August, wenn er sich für die Brut hierzulande einfindet.

Geradezu flächendeckend kommt er vor, obwohl im Nordwestdeutschen Tiefland und in manchen Regionen von Süddeutschland weniger Paare brüten. Und an der Nordseeküste sind sie als Brutvögel tatsächlich eher die Ausnahme.

Und was wusste bereits Alfred E. Brehm, der in Ägypten und dem Sudan als Naturforscher unterwegs war, über die Verbreitung dieses weitziehenden Würgers (S. 492):

Er bewohnt fast ganz Europa von Finnland und Rußland ab bis Südfrankreich und Griechenland und ebenso das gemäßigte Sibirien. Gelegentlich seiner Winterreise durchstreift er ganz Afrika und, ist während unserer Wintermonate in allen Waldungen des Inneren wie der Küstenländer Südafrikas … eine sehr häufige Erscheinung, wartet dort bei reichlich Futter seine Mauser ab, die in die Monate Dezember und Januar fällt, und kehrt sodann allmählich heimwärts.

Wie sie sitzen

Einen Neuntöter mit einem Fernglas oder einem Spektiv längere Zeit zu beobachten, macht gute Laune. Denn wie er in der Gegend herumschaut, mal ein fliegendes Insekt mit den Augen verfolgt, mal am Boden einen Käfer begutachtet, ist ein kleines Naturschauspiel. Und das Schöne: Wenn wir uns ruhig verhalten, bleibt er lange sitzen und fliegt nach einem Beuteflug an denselben Standort zurück.

der rotbraune Vogel sitzt mit verdrehtem Kopf auf einemHolzscheit.
Zu spät: Die Hummel ist schon vorbei geflogen.
Vogel, auf einem Holzpfahl sitzend, schaut auf den Boden
Interessant: Was krabbelt da durchs Gelände?

Weil Alfred E. Brehm den Neuntöter, den er Dorndreher nennt, so treffend charakterisiert hat, kommt der „Tiervater“ hier nochmals zu Wort (S. 493):

Der Dorndreher ist ein dreister, mutiger, munterer, unruhiger Vogel. Selbst wenn er sitzt, dreht er den Kopf beständig nach allen Seiten und wippt dabei mit dem Schwanze auf und nieder. Die höchsten Spitzen der Büsche und Bäume bilden für ihn Warten, von denen aus er sein Jagdgebiet überschaut, und zu welchen er nach jedem Ausfluge zurückkehrt.

Kopf des Vogels nach hinten gedreht

Kopf des Vogels leicht geneigt

Kopf des Vogels vorgestreckt

Die alten Rieselfelder nahe Großbeeren in Brandenburg sind ein wunderbares Gebiet, um Neuntöter zu beobachten. Als ich zuletzt dort unterwegs war (und mich wieder mächtig über die betonierten und versteinerten Vorgärten im Neubaugebiet aufgeregt hatte), sorgte ein Neuntöter schon bald für gute Stimmung.

Es wehte kräftig. Dennoch verharrte das Männchen auf seiner Warte und hielt nach Beute Ausschau. Ich war begeistert von seiner Standfestigkeit, bevor ihm dann der Wind heftig ins Gefieder fegte: Kopf- und Rückengefieder flatterten, schließlich hob er sogar die Flügel an, ohne abzufliegen. (Gerade auch diese Fotos vergrößern!)

Was sie treiben

Neuntöter gehören zu den Weitstreckenziehern und kommen vergleichsweise spät, nämlich erst Anfang oder Mitte Mai, aus dem Winterquartier zurück. Wie bei der Nachtigall und anderen Singvögeln treffen die Männchen vor den Weibchen ein und besetzen bereits ein günstiges Revier. Oft ist es dasselbe wie im Vorjahr.

Wenn die weiblichen Neuntöter erscheinen, lockt der Revierbesitzer sie durch „tschak“artig klingende Rufe an. Bleibt ein Weibchen im Revier, dann fliegt das Männchen in seine Nähe, setzt sich neben die potenzielle Partnerin und balzt mit auffälligen Bewegungen. Sie sind in Die Würger der Paläarktis (Neue Brehm-Bücherei, Wittenberg/Magdeburg VerlagsKG Wolf) von E.N. Panow ausführlich beschrieben und illustriert (Seite 54).

Mit steil aufgerichtetem Körper wendet das Männchen ständig den Kopf hin und her, so daß dem Weibchen mal die weiße Kehle, mal der graue Kopf gezeigt wird… dieses Paarbindungsverhalten wird durch ständigen leisen Gesang begleitet.

Bisher konnte ich diesen Teil des Balzverhaltens nicht selbst beobachten, aber einen anderen Teil, die von Panow beschriebene Futterübergabe:

Dann fliegt das Männchen zum Boden, liest ein Insekt oder auch ein Stück von einem grünen Blatt auf, und kehrt mit der Beute im Schnabel zum Weibchen zurück, um es zu füttern. Dabei zittert das Weibchen mit den Flügeln und spreizt etwas den Schwanz.²

Männchen und Weibchen sitzen auf einem Holzscheit und schauen sich an.
Was bringst du mir?

Als ich mich näherte, hatte das Weibchen auf dem Totholz offenbar auf das Männchen gewartet. Sie wirkt etwas größer als es, weil das Gefieder vom bettelnden Flügelschlagen etwas aufgeplustert ist. Die Vögel sind aber gleichgroß.

Weibchen hat Futter vom ännchen übernommen und im Schnabel
Merci, monsieur!
Nur noch kleinkriegen.

Wenn Balz und Verpaarung günstig verlaufen, beginnen beide schon bald mit dem Nestbau. Ende Mai bis Mitte Juni sind meist die Eier gelegt und nach einer etwa zweiwöchigen Brutzeit schlüpfen die Jungvögel. Weitere zwei Wochen brauchen die nackten Nesthocker, bis sie flügge sind und das Nest verlassen. Aber selbst dann werden sie noch mit Raupen, Heuschrecken und vielem mehr von den Altvögeln gefüttert.

Fliegender Neuntöter über grüner Wiese, der seine Flügel schön ausgebreitet hat.

Diese machen sich ab Anfang August auf den Weg ins südliche Afrika, und zwar in gleicher Reihenfolge: Erst fliegen die Männchen ab, danach die Weibchen. Die Jungvögel starten als letzte, finden Richtung und Route durch ein genetisch verankertes Steuerungsprogramm. Und man möchte ihnen für die weite Reise, bei der sie sich hoffentlich nicht in den Netzen von Vogelfängern verfangen, viel Glück wünschen.

¹ Wo Neuntöter leben, da sieht man manchmal an einem Dorn oder Zweiglein aufgespießte Insekten. Dabei handelt es sich um die „Speisekammer“. Uwe Westphal erklärt, was dahinter steckt und wie der Neuntöter zu seinem Namen kam: „In Zeiten des Nahrungsüberflusses legt der Vogel auf diese Weise Vorräte für schlechtere Zeiten an. Es wurden schon Ansammlungen von bis zu sieben Mäusen und 30 Maikäfer gefunden. Früher glaubte man, der Vogel würde erst neun Tiere töten, bevor er eines verzehrt – daher der martialische Name.“ (Schräge Vögel, S. 114)
² Dies entspricht dem Bettelverhalten, das wir bei jungen Vögeln oft beobachten können.

Neuntöter oder Rotrückenwürger | Pie-grièche écorcheur | Red-backed Shrike | Lanius collurio



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2 Kommentare zu “Mit Augenmaske und Falkenzahn

  1. Danke für diese wieder so großartige Arbeit! Unsere erste bewusste Neuntöterentdeckung werde ich nie vergessen. Die Freundin hat in ihrem großen Garten eine Kakteensammlung, darunter eine Opuntie mit ca. 2-3 cm langen Stacheln, auf denen öfter dicke Brummer aufgespießt waren. Wir fragten uns, warum die sich wohl „ins Schwert gestürzt“ hatten, bis wir dann auf den Zaunpfosten häufig Neuntöter gesehen haben. Auch die Nutzung eines „Neophyten“ ist nicht besonders auffallend, denn in Südafrika sind Opuntien häufig verwildert.

    1. Es freut mich sehr, dass Ihnen der Beitrag gefällt. Leider entdeckte ich kein aufgespießtes Insekt. Und im September lockt mich dann der Beobachtungstand in Ihr „Kranichland“.

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