Der Herbst ist die Jahreszeit, in der das Federkleid des Eichelhähers besonders schön leuchtet. Und außerdem sind die schmucken Häher dann besonders leicht zu entdecken: Die hartschaligen Eicheln fallen von den Bäumen, und die Eichelhäher suchen ihre Lieblingsspeise nun nicht hoch oben in den Zweigen, sondern am Boden. Dort hüpfen sie herum, manchmal nur einer oder zwei, oft aber sind sie zu mehreren unterwegs. Auch wenn sie plötzlich hoch ins Geäst fliegen, sind sie derzeit besser zu sehen als im Sommer. Denn die Bäume sind nur noch spärlich belaubt.
Kürzlich beobachtete ich vier Eichelhäher auf einem allmählich verwildernden Friedhof in der Nachbarschaft. Es war nicht das erste Mal, dass sie mir dort begegneten. Oft höre ich zunächst ihr < Rätsch, rätsch> oder ein <Schräit äät>, wie es in der schönen App „Die Stimmen der Vögel Europas“ notiert ist.* Das bedeutet manchmal, dass der Friedhofs-Fuchs in der Nähe ist, und manchmal, dass sie sich von mir oder anderem Friedhofsbesuch gestört fühlen. Das ist aber die Ausnahme, denn an Menschen mit oder ohne Fernglas und Kamera sind sie hier gewöhnt.
Die bunt gefiederten Eichelhäher sind im Schatten von Bäume leicht zu übersehen, also gut getarnt. (Und meine Fotos musste ich teilweise aufhellen.) Doch die Vögel fielen mir sofort durch ihr etwas putziges Herumgehüpfe bei der Suche nach Eicheln auf. Tatsächlich überraschte ich sie wohl ein wenig, denn sie flogen zunächst einmal weg.
Abwarten lohnt sich
Ich machte, was ich in solchen Situationen immer empfehle: Ich wartete ab und setzte mich auf eine Bank. Die ist einer der Vorteile von Vogelbeobachtungen in Parks oder auf einem Friedhof … Wie erwartet – denn hier gab es ja ihre Leibspeise – kehrten die Vögel bald zurück, um sich den Schnabel mit Eicheln vollzustopfen.
Es wurde genaugenommen nicht der Schnabel vollgestopft, sondern der stark erweiterbare Schlund, der einen Kehlsack bildet. Auf und unter dem Eichenlaub schnappten sich die Eichelhäher die begehrten Eicheln, die sie manchmal wieder fallen ließen. Sie fluppten ihnen aus dem Schnabel.
Das lag wohl kaum an der Qualität der Eichel. Wie mir rasch dämmerte, passte manchmal einfach nichts mehr in den vorgesehenen Speicher.
Bei Kindern, die sich den Teller übervoll machen und dann nicht alles aufessen, sagen wir bekanntlich: Ihre Augen sind größer als der Magen. Das gilt gewissermaßen auch für Eichelhähern. Für sie waren die Eicheln offenbar extrem verführerisch, und die Lust auf die knackigen Samen einer mächtigen Eiche größer als das Fassungsvermögen ihres Schlunds.
Der übermäßige Appetit auf Eicheln hat durchaus Gründe und eine biologische Funktion:
Nur wer zumindest zeitweise zu viel Appetit hat, kann einen Teil seiner Nahrung horten und dadurch Vorräte für schlechte Zeiten anlegen.
Und schaden tut den unermüdlichen Vögeln ihre große Sammelleidenschaft offenbar nicht. Andernfalls hätte dieses aufwändige Verhalten in der Evolution keinen Bestand gehabt.
Auf dem Berliner Friedhof waren die Häher jedenfalls gut beschäftigt, wie das anschließende, etwas längere Video auf hoffentlich unterhaltsame Weise vorführt.
Es zeigt, wie zwei Vögel (am oberen Bildrand ist kurz ein dritter zu sehen) herumhüpfen, wie sie auf, im und unter dem Laub nach Eicheln suchen, wie sich der Kehlsack füllt und wie sie abfliegen.
Wohin mit den Eicheln?
Schaut man den Eichelhähern zu, denkt man irgendwann: Es reicht! Merken sie nicht, dass der Kehlsack voll ist? Die Eicheln werden ja nicht heruntergeschluckt oder zerkleinert, sondern nur zwischengespeichert. Und der Platz im Kehlsack ist begrenzt. Schon bläht sich die Kehle auf.
Meist finden drei oder vier Eicheln im Kehlsack Platz. Wenn dann nichts mehr hineinpasst, wird die Beute beziehungsweise Ernte fliegend abtransportiert. Übrigens: In der Regel lassen es die Vögel sich nicht nehmen, zuletzt noch eine Eichel im leicht geöffneten Schnabel wegzutragen.
Immer wieder sah ich die Eichelhäher in eine unzugängliche Mischzone aus Gebüsch und jungen Bäumen fliegen. Aber leider konnte ich nicht beobachten, wie und wo sie dort ihre Eichelladung loswurden. Doch, wie schon vermutet wurde, ich bei Johann F. Naumann fündig.¹ Er schreibt über die Vorratshaltung des Vogels auf Seite 72,
Eicheln, Haselnüsse und dergleichen trägt er bei gutem Herbstwetter in seinem sich sehr erweiternden Schlunde oft haufenweise zusammen, steckt sie in Baumspalten oder unter das abgefallene trockene Laub und holt sie dann im Winter, oft auch eher (wenn sie nämlich auf den Bäumen schon selten werden), hervor und verzehrt sie. Er vergisst indessen die Vorratskammern nicht selten und pflanzt dadurch jene Bäume fort.
Dass Nahrung versteckt und gehortet wird, kennen wir auch von anderen Krähenvögeln, zu denen die Eichelhäher ja zählen. Ihr übermäßiger Appetit, die Sammelleidenschaft und das Verstecken macht einerseits ernährungstechnisch Sinn und sorgt andererseits für die Verbreitung von Sämlingen der Eiche, den Eicheln. Dort, wo die Eichen gerade ihre Früchte abwerfen, fallen die farbenprächtigen Häher oft in größerer Zahl und von weither kommend ein. Man spricht daher auch von Sammelflügen.
Die Gärtner des Waldes
Über die Menge beziehungsweise „Unmenge“ von Eicheln, die Eichelhäher aus einem Eichenwald abtransportieren können, berichtete Otto Wadewitz schon vor Jahren.² Er hatte sich die Mühe gemacht, zu zählen und auszurechnen, wie viele Eicheln eine Gruppe von Hähern in einem Stieleichenwald am Rande der Dübener Heide in Sachsen-Anhalt gesammelt hatte. Dabei wertete er einen Zeitraum von 20 Herbsttagen aus und kommt auf die sagenhafte Menge von rund 2200 Eicheln pro „erntendem“ Häher. Das entspricht 11 kg.
In manchen Publikationen lese ich, dass die Häher die doppelte Menge eingesackt hatten. Und in vielen Abhandlungen haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen analysiert, welche Rolle das Verstecken und Horten von Eicheln für die Ausbreitung der Eichenwälder bedeutet hat und bis heute bedeutet.
Zwar ist das rückblickend nicht exakt zu ermitteln, aber unbestritten. Denn einen Teil der Eicheln, die die Eichelhäher verstecken, finden sie – wie schon Johann F. Naumann wusste – nicht wieder. Und diese Samen keimen später aus.
Eine Eichel kleinkriegen
Der Schnabel des Eichelhähers ist ein Vielzweckapparat und wurde schon als „Schweizer Messer“ bezeichnet.
Denn mit ihm
schnappen die Vögel nach Eicheln oder anderer Beute
nehmen sie kleine Vögelchen auseinander
öffnen Vogeleier oder transportieren sie ab
graben im lockeren Boden
hauen Blätter oder Unrat mit Schnabelhieben zur Seite
hämmern auf festen Schalen herum oder
knacken sie wie eine Nuss.
Ist es nicht erstaunlich, dass sie mit ihrem Schnabel so hart beschalte Samen wie eine Eichel öffnen können? Im Klassiker der deutschsprachigen Ornithologie, dem Handbuch der Vögel Mitteleuropas³ lese ich dazu auf Seite 1421
Bei der Bearbeitung von Eicheln und ähnlichen Objekten umklammern Mittel- und Außenzehen den Ast oder eine andere Sitzgelegenheit und die beiden inneren fixieren die Eichel. Während der Bearbeitung ändert und korrigiert der Vogel, wobei vorübergehend alle Vorderzehen zur Stabilisierung der Position oder zum Festhalten des Objekts eingesetzt werden können. Die Öffnung von Eicheln erfolgt nur ausnahmsweise hämmernd; gewöhnlich versucht der Vogel durch Beißen und Hebeln die Schale zu sprengen; dann zwickt er entweder Stücke des Kernes bzw. der Keimblätter ab, oder er greift mit dem etwas geöffneten Schnabel in die geschälte Eichel, raspelt mit raschen Unterschnabelbewegungen kleine Brösel ab, die gegen den als Untersatz wirkenden Oberschnabel gepreßt und anschließend mit einer ruckartigen Kopfbewegung in den Schlund geworfen und verschluckt werden.
Wie der Eichelhäher eine Eichel erledigt, hängt sicher auch von deren Zustand ab. Wie knackig ist sie? Wie aufgeweicht durch Feuchtigkeit? Mit seinem „Schweizer Messer“ stehen den Eichelsammlern definitiv verschiedene Techniken zur Verfügung, um an das protein- und kohlehydratreiche Innere der Nuss – die Eichel zählt zu den Nussfrüchten – zu gelangen.
Selbst wer den Eichelhäher als Nest- und Singvogelräuber ablehnt, wird ihn wegen seines Aussehens, seiner Neugier und seines unterhaltsamen Verhaltens vermutlich schätzen. Und außerdem kümmert er sich um unsere Laubwaldbestände. In Bayern ticken die Uhren jedoch bekanntlich anders. Dort unterliegen die Vögel nach wie vor dem Jagdrecht, das den Abschuss erlaubt. 74.000 waren es in den Jahren 2018 – 2023, berichtet Stefan Bosch.** Daran wird sich in Kürze nichts ändern.
* Diese App ermöglicht es nicht, eine Vogelstimme aufzunehmen und zu identifizieren. Sie gibt aber für über 500 Vogelarten an, wie die Tiere rufen und singen und in welchen Situationen, was zu hören ist. Zunächst gibt man die Art an, dann lassen sich die Vokalisationen anhören und im Sonagramm mitlesen.
** Stefan Bosch: Eichelhäher weiter im Jagdrecht. Vögel 5, 2024, S. 9
¹ Johann F. Naumann: Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas, 1887-1905, 3. Aufl., Bd. IV, S. 72
² Otto Wadewitz: Die Sammelflüge des Eichelhähers. Falke 23, 1976, S. 160–164
³ Urs N. Glutz von Blotzheim u.a., Handbuch der Vögel Mitteleuropas, Band 13, S. 1421
Eichelhäher | Geai des chênes | Jay | Garrulus glandarius
Das Sammeln der Eichelhäher erfreut mich auch jeden Herbst. Aber die Walnuss-Ernte der Nebelkrähen ist auch immer sehr auffällig hier, incl. das Herunterwerfen der Nüsse von den Hausdächern, zwecks Öffnung, oft sehr laut.
Das konnte ich selbst noch nicht beobachten, aber spannend. Rabenvögel sind eben dermaßen findig. Ich sehe nur, wie sie bei Nüssen und wohl auch Kastanien nachschauen, ob ein PKW sie beim Drüberfahren aufgebrochen hat.
Liebe Elke Brüser, deine Blogpost ist mir eine große Freude, immer informativ und unterhaltsam, oft mit feinem Humor – Balsam für die Seele in diesen unruhigen Zeiten! Beim Lesen konnte ich gerade einen Eichelhäher in unserem kleinen Garten beobachten. Wie „vogelfreundlich“ deine kleinen Filmchen! Übrigens finde ich die App NABU Vogelwelt ganz aufschlussreich, nicht zuletzt was die Vogelstimmen angeht.
Ganz herzlichen Dank mit vielen Grüßen aus Berlin Lankwitz
Ich danke dir für deinen schönen Kommentar. Und ich grüße gerne zurück!