Als ich im Juni an der Wesermündung eine Gruppe von Rotschenkeln beobachtete, gab es eine Überraschung: Ein langbeiniger Watvogel mit dunklem, weiß gepunktetem Gefieder flog plötzlich an einer Wasserstelle auf, wo er zuvor emsig nach Nahrung gesucht hatte.
Dann landete er in der Ufervegetation, so dass ich ihn von der Beobachtungshütte aus gut sehen konnte.
Bitte Abstand halten
Dass plötzliche Auffliegen des auffälligen Vogels hatte natürlich einen Grund: Er war beim Stochern im seichten Wasser einer sandbankartigen Insel, auf der drei Säbelschnäbler brüteten, zu nahe gekommen. Dies gefiel den Säbelschnäblern nicht, und die Partner der Vögel auf dem Nest – beide Geschlechter brüten und sind kaum zu unterscheiden – zeigten sich angriffsfreudig. Das bekam der dunkle Watvogel zu spüren.
Weil der Stocherer einem Gelege auf der Insel offenbar zu nahe gekommen war, stürzte sich einer der Säbelschnäbler auf den perplexen „Eindringling“. Das rührte die Austernfischer am Ufer wenig. Aber aufgeschreckt, flog der dunkle Watvogel davon.
Um wen es sich bei dem Flüchtenden handelte, wusste ich auf Anhieb nicht. Es konnte weder ein Rotschenkel noch ein Grünschenkel sein.
Who is who?
Zum Glück gibt es digitale Fotos, Computer und Bestimmungsbücher wie den Kosmos Vogelführer von Lars Svensson (Stuttgart 2017). Und rasch war klar: Es handelte sich um den Dunklen Wasserläufer – oft auch Dunkelwasserläufer oder Schwarzwasserläufer genannt. Und er war im Prachtkleid, trug also das typische Gefieder der Fortpflanzungszeit.
Der Dunkelwasserläufer gehört zoologisch zur Familie der Schnepfenvögel, genauer zur Gattung der Wasserläufer (Tringa). Er ist nah verwandt mit Arten wie Rotschenkel, Grünschenkel oder auch dem Bruchwasserläufer.
Einen Dunkelwasserläufer im schwarzen Prachtkleid mit weißen Punkten sieht man an der Nordsee nicht so oft. Denn die Wesermarsch – wo ich mich befand – ist wie ganz Deutschland vor allem Durchzugsgebiet für die Art, die im hohen Norden brütet. Ihr Brutgebiet zieht sich vom nördlichen Schweden über die russische Taiga und Tundra bis an die Nordküste des Pazifiks, also bis ans Beringmeer.
Mich hatte durchaus gewundert, dass Mitte Juni ein Dunkler Wasserläufer im ostfriesischen Wattenmeer auftaucht. Hat er nicht gebrütet oder brütet er hier? Doch es gibt eine andere Erklärung: Es sind frühe Durchzügler auf dem Weg nach Afrika¹ und in der Regel Weibchen, die das Brutgeschäft im hohen Norden bereits hinter sich haben.
Erfolgreiche Aufgabenteilung
Dass die Weibchen so früh im Sommer – ohne männliche Begleitung oder eine Kinderschar – an der Nordsee auftauchen, heißt nicht, dass sie erfolglos gebrütet haben. Die Sache ist so: Manche Vogelarten der Gattung Tringa legen sehr große Eier. Zum Beispiel wiegen beim Bruchwasserläufer, der kleiner ist als der Dunkle Wasserläufer, die vier Eier seines Geleges rund 60 Gramm. Das entspricht etwa seinem Körpergewicht von 50 bis 90 Gramm.
Und diese 60 Gramm Nachwuchs samt Eischale werden von den Weibchen in vier bis fünf Tagen fertig gestellt und gelegt. (Heinrich Kirchner: Der Bruchwasserläufer, Neue Brehm-Bücherei, 1963, Wittenberg/Magdeburg)
Nach der Eiablage sind die Weibchen sicher am Ende ihrer Kräfte. Das Brüten ist immerhin weniger kraftzehrend, und da sich beide Geschlechter abwechseln, können die Weibchen fressen – also auftanken.
Dass sie vom Männchen mit Futter versorgt werden – wie bei vielen Vogelarten üblich – hat das arteigene Verhaltensprogramm beim Dunklen Wasserläufer und seinen nahen Verwandten nicht vorgesehen.
Von fürsorglichen Vätern und Kindergärten
Wasserläufer sind dafür bekannt, dass sie ungewöhnliche Fortpflanzungsstrategien haben. Diese unterscheiden sich von Art zu Art und sind den jeweiligen Lebensbedingungen gut angepasst. Auffällig ist, dass bei mehreren Arten die Weibchen gegen Ende der Brutzeit verschwinden, entweder um sich erneut mit einem anderen Männchen zu paaren² und Eier zu legen oder um bereits gen Süden zu fliegen.
Mit anderen Worten, sie überlassen es den Männchen, das Gelege auszubrüten. Und diese kümmern sich auch um die geschlüpften Jungen – im Fachjargon heißt es „sie führen die Jungen“. Sie sorgen also für
ausreichend Wärme und Schutz vor Nässe
Sicherheit vor Prädatoren wie Füchsen und Bussarden
Nahrung in den ersten Lebenstagen
Als typische Nestflüchter sind Wasserläufer aber rasch selbständig. In den Brutgebieten werden sie von den Vätern zu Sammelplätzen begleitet, einer Art „Kindergarten“, wo die Jungvögel solange bleiben, bis sie flugfähig sind.³ Nach einiger Zeit fliegen auch die adulten männlichen Dunkelwasserläufer Richtung Winterquartier ab. Die Jungvögel machen sich später in Gruppen unbegleitet auf den Weg.
Zuflucht bei den Rotschenkeln
Zurück an die Wesermündung: Durchaus amüsant fand ich, dass sich der aufgescheuchte Dunkle Wasserläufer zu den etwas kleineren Rotschenkeln gesellte. Diese standen versteckt an der Uferböschung.
Ganz unaufgeregt reagierten die nahen Verwandten. Ich hatte den Eindruck: Man kennt sich.
Das ist nicht ganz falsch, denn in den hochnordischen Kindergärten finden sich Jungvögel verschiedener Watvögel ein und fliegen später gemeinsam ab.
Insofern wunderte es auch nicht, dass der verscheuchte Dunkelwasserläufer schon bald nahe der Rotschenkel ganz entspannt sein Gefieder putzte und sich schließlich bei ihnen zum Ruhen niedersetzte.
¹ Brutvögel aus östlichen Brutgebieten in Russland ziehen im Winter an die Küsten Indiens oder Länder Südostasiens.
² Es handelt sich um Polyandrie im Gegensatz zu Polagamie.
³ Handbook Of The Birds Of The World, Hrsg. Josep del Hoyo u.a., Lynx Edicions, Barcelona, 1996, Bd. 3, S. 475
Dunkelwasserläufer | Chevalier arlequin | Spotted Redshank | Tringa erythropus
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